Der Klangwürfel und die Handtasche

Der Sonic Seducer befürchtete einen Aprilscherz bei der Meldung, dass Clock DVA 2011 auf dem Wave-Gotik-Treffen auftreten würden. Ich befürchtete, dass sie nach einigen Tagen auf der WGT-Homepage genau so einen Strich durch ihren Bandnamen bekommen würden wie A Flock Of Seagulls. Das war nach heftiger Vorfreude auf diese grandiose 80er-Jahre-Band ein wirklich harter Schlag gewesen. Doch mit Clock DVA war es der Band als auch den WGT-Veranstaltern ernst. Letztere packten gleich noch einen aufs Programm oben drauf mit Chris & Cosey – zwei Ex-Mitgliedern von Throbbing Gristle.

Ich freute mich jedenfalls total auf diese zwei Bands, die schon Postpunk und ‚klassischen Industrial’ machten als ich noch im zarten Vorschulalter herumturnte. Aber von musikalischen Zeitreisen in die Vergangenheit wurde ich selten enttäuscht – auch dieses Mal nicht. Es waren meine zwei besten Konzerte beim WGT 2011. Außerdem finde ich es oft frappierend bei solchen Konzerten herauszufinden, welche Sounds manche Urväter schon gebastelt haben, die ich nur von aktuellen Bands kenne und dachte, es wäre deren Erfindung – tatsächlich sind sie aber nur die Sound-Erben (positiv formuliert ;-)).

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Liebevoll-leckere Schnittchen für alle Trommler und Gäste... die gibt's so nur im Anker!

Ebenfalls sehr gut kam die verrückte Trommel-Anarchie von N.U. Unruh von den Einstürzenden Neubauten am Samstag im „Anker“. Dort habe ich Roman getroffen, der hier auf dem Blog die zwei Gastbeiträge über Lost Places und 42 Stunden hinter Gittern geschrieben hat. Er war aus den USA für ein paar Tage hier in Europa und davon 3 Tage auf dem WGT. Beim Konzert wurde Roman (großer Neubauten-Fan!) von Herrn Unruh höchstselbst zum gemeinsamen Trommeln auf die Bühne geholt (ich ganz baff: „Kennst Du den etwa persönlich?“ – Roman schulterzuckend: „Nööö…“ und da wurde er auch schon Richtung Bühne gezogen…). Es war ein cooles Erlebnis für Trommler und Zuhörer, auch wenn Roman den Tag drauf 3(!!) Blasen an den Fingern hatte… 😯

Das musste ich natürlich filmen! Roman ist der Trommler rechts auf der Bühne (meist-fixiert ;-)) – ab 0:28 min mit N.U. Unruh, nachdem dieser die Box mehr ins Publikum gedreht hat. Die PA sollte eigentlich den Takt vorgeben mit Titeln von Covenant bis Wumpscut, aber sie war zu leise – die Trommler hörten sie nicht. Deshalb Anarchie!

Meine weiteren Highlights waren Fields Of The Nephilim (genialer, ‚true-ester’ Goth-Metal), Recoil und besonders der Gastauftritt des Nitzer Ebb-Frontmanns Douglas McCarthy (ist ja eh einer der besten Fronties…) für die zwei Stücke „Family Man“ (NEP) und „Faithhealer“ (Sensational Alex Harvey Band/The Bollock Brothers):

Diamanda Galás haben wir dank unseres diesjährigen WGT-Begleiters Niels entdeckt. Wir konnten am Freitag abend für die Oper noch drei Karten ergattern, erfuhren aber beim Einlass, dass sich das Konzert um 1 Stunde verschiebt aufgrund technischer Probleme. Ärgerlich! Damit lief es in den Beginn von Clock DVA hinein und die mussten wir natürlich von Anfang sehen. Obwohl wir daher nur eine halbe Stunde Diamanda Galás’ seltsamen aber packenden Stücken lauschen konnten, hat sie uns sehr begeistert. Eine beeindruckende Frau und ausdrucksstarke Künstlerin. Beim nächsten Mal müssen wir unbedingt das ganze Konzert mitnehmen. Aber ich habe die Wahl für Clock DVA nicht bereut, wobei man beides auch gar nicht vergleichen kann.

Der Klangwürfel: Clock DVA @ WGT 2011

Ja, da hatte der Sonic Seducer schon recht: der Auftritt der 1978 gegründeten, britischen Band Clock DVA war eine mittlere Sensation. Ihr letztes Album erschien 1994 und weil sie ziemlich zerstritten waren, gab es danach auch keinen Auftritt mehr. Uns erwartete also das 1. Konzert seit 17 Jahren! Da ist man schon aufgeregt – selbst als Zuschauer. Der Volkspalast-Pantheon-Kuppelhalle war brechend voll.

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Clock DVA stehen für experimentelle, intelligente Elektronik – für abwechslungsreiche Soundstrukturen, Klangflächen, Filmsamples von „Das Ding aus einer anderen Welt“ oder dem Ameisengrusler „Phase IV“ und wenn es nach dem netten Typen neben mir im Kraftwerk-Shirt ging sind Clock DVA „die einzige Band, die mit Kraftwerk mithalten kann“.

Clock-DVA-WGT-2011In der Mitte des Volkpalastes war ein Leinwandwürfel aufgebaut, oben offen. Darin befanden sich Computer, Soundgeräte, Keyboard, eine Schreibtischlampe und ein Stuhl. Als nächstes kamen der Sänger Adi Newton und zwei weitere für mich aber nicht identifizierbare Bandmitglieder (war auch eine Frau dabei?) in den Saal, in weiße Arztanzüge gekleidet und begaben sich in den Würfel. Adi Newton ging leicht humpelnd am Stock – er musste auch schon fast 60 sein, ich fand es irgendwie ergreifend. Das Licht ging aus, Adi setzte sich vor seinen Computer und wählte dort für alle sichtbar das Programmset für die kommenden 1,5 Stunden aus. Deshalb für alle sichtbar, weil das Bild des Monitors über vier Beamer, die sich unterhalb der Kuppel im Pantheon befanden, auf die vier Leinwände des Klangwürfels übertragen wurde. Zu Beginn des Konzerts wurde dieses Zitat von Antonin Artaud eingeblendet, was gut zur gleich beginnenden Reise auf Clock DVA’s Klangteppichen passte:

When I am trying to discover myself, my thougts seek one another in the regions of new space.
I am up in the moon, dreaming, while others sit at home.
I partake in planetary gravitation within the fissures of my mind.
(Antonin Artaud)

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Adi Newton im Spotlight: der Soundprofessor in seinem Klanglabor

Und dann begann eine Zeitreise des Hörgenusses untermalt mit wunderschönen Bildern, die auf dem Klangwürfel tanzten, passend zu experimentellen Sounds, zu schnellen Stücken wie „Fractal 9“ und „The Hacker“ oder zu langsameren wie „Phase IV“ und „Sound Mirror“. Auch unbekannte Sachen wurden gespielt, vielleicht ist doch was dran an dem Gerücht eines neuen Albums…? **freu** Ich war hin und weg, tanzte oder schaute wie paralysiert die Videoshow auf diesem Klangwürfel an.

Ich fand den Würfel wirklich eine geniale und außergewöhnlich gute Idee! Adi Newton wirkte darin wie ein Sound-Professor in seinem Labor. Auch wenn das Einigen gar nicht gefallen hat, weil sie ihren Künstler lieber sehen wollen. Aber ich denke, das war genau der Grund für den Würfel. Adi Newton ist nun nicht mehr der Jüngste und wollte sich sicher nicht mit einem Gehstock auf die Bühne stellen (das hätte ich auch nicht gemacht). Das Wichtigste an der Band sind – für mich zumindest – die Sounds. Ich fand die Idee und Umsetzung mit so einem Leinwand-Klang-Würfel einfach grandios und optisch sehr wirkungsvoll! Immerhin hab ich nach 1,5h Stunden immer noch fasziniert drauf gestarrt ;-)… auch als Clock DVA dann schon die 4. Zugabe spielten. Scheinbar waren sie darauf gar nicht vorbereitet, denn Adi hat einfach Stücke aus dem Konzert wiederholt. Aber egal!

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Song-Dateiauswahl: alle konnten mitgucken...

Nach insgesamt 2 Stunden wankten wir fasziniert und glücklich aus dem Volkspalast! Irgendwie war uns auch etwas wehmütig zumute. Wer weiß, ob man Clock DVA noch einmal live sieht? Gesundheitlich geht es Adi Newton scheinbar ja nicht so gut und da könnte man fast glauben, es sei nach langer Zeit das erste und auch gleich wieder das letzte Clock DVA-Konzert gewesen. Hoffentlich nicht…  wir drücken die Daumen!

 

Die Handtasche: Chris & Cosey @ WGT 2011

Nicht, dass das falsch rüberkommt: die Musik bei diesem 2. Konzert mit Seltenheitswert kam nicht aus der Handtasche von Frau Cosey Fanni Tutti – auch wenn der Gristleizer – ein von Chris Carter selbst zusammengelötetes Effektgerät (Soundverzerrer) genutzt bei Throbbing Gristle, locker in ihre Handtasche gepasst hätte. Ich bin so fasziniert vom Gristleizer, dass ich euch dieses Video nicht vorenthalten möchte. Und das ist nur der momentan im Vertrieb erhältliche Nachbau! Denn das letzte Original von Chris Carter hatte 2009 – nach 32 Jahren – den Geist aufgegeben.

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Cosey Fanni Tutti

Die Handtasche habe ich erst beim Aufnehmen des Videos unten erspäht (3:46 min). Aber ich fand das ziemlich lustig: Cosey – ganz die britische Lady – geht nie ohne Handtasche aus – auch nicht auf die Bühne! Aber wohin auch damit, wenn der einzige in Frage kommende Bewacher (nämlich ihr Partner) auch mit auf der Bühne steht? Als Frau kann ich das verstehen ;-). Handtaschen auf der Bühne sind nur leider so selten geworden…

Chris & Cosey machen keinen ‚klassischen Industrial’ wie Throbbing Gristle, die durch ihren schrägen, verzerrten Sound und den Namen ihres eigenen und ersten unabhängigen Labels „Industrial Records“ in England das ganze Musikgenre „Industrial Music“ begründet haben. Chris & Cosey stehen eher für melodisch-zerschraubten Synthiepop mit der lasziv-verführerischen Stimme von Cosey. Die Klänge sind dank Chris Carters Soundkünsten sehr verbastelt, vibrierend, sie schrauben sich hoch. Sowas liebe ich ja! Man konnte die Augen zumachen, träumen oder tanzen. Es war herrlich!

Im Gegensatz zur Soundqualität, denn leider merkten die Soundtechniker vom Volkspalast viel zu lange nicht, dass Cosey’s Gesang viel viel viel zu leise geregelt war. Cosey machte sich die Mühe und hantierte dort noch mit Xylophon und Kornett herum, aber auch davon kam im Publikum erst dann beim fünften (!) Song was an, als scheinbar jemand erwacht war und den Micro-Regler hochgeschoben hatte. Leute, Leute, und das bei dieser Band! **aarrrgh**

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Chris Carter, der Soundschrauber

Vielleicht kamen sie aber auch nicht hinterher. Denn Chris schraubte die ganze Zeit wie ein Besessener Töne an seinen Effektgeräten und was er da noch alles hinter seinem Monitor stehen hatte. Es war ein Genuss!! Und dazu Cosey, die einfach nur sehr bezaubernd war. Eine wunderbare Stimme und schöne Bewegungen. Irgendwie glänzten auch beide durch typisch britisches Understatement, was immer ein wenig schüchtern und sympathisch rüberkommt. Nach 1,5 Stunden auch visuell schön hinterlegter Synthiesoundbasteleien gingen sie von der Bühne. Ein Freund meinte neben mir noch: „Hach, jetzt fehlt nur noch ‚October Love Song’ als Zugabe.“ Darauf ich: „Sieht schlecht aus, sie hat schon ihre Handtasche mitgenommen…“ Aber die beiden kamen noch mal wieder und spielten genau den gewünschten Hit. Die Handtasche wurde diesmal nicht auf dem Tisch abgestellt, sondern unterm Tisch bei Chris ;-).

Hach, we love you and thank you for this great final festival-flash!!

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11 Kommentare zu „Der Klangwürfel und die Handtasche“

  1. Ganz ausgezeichnet. Dein Artikel sorgt bei mir für die größte Würdigung für deine Erlebnisse: Neid. Obwohl eine Todsünde gebe ich mich diesem Gefühl einfach mal hin. Soviele großartige wie einzigartige Konzerte und Darbietungen zu sehen, grenzt schon an Fleiß. Und dazu noch Schnittchen, ein Auftritt für Roman, eine Handtasche und ein illuminierter Würfel. Der Neid mündet letztendlich in Bewunderung und in den Plan, es beim nächsten WGT einfach besser zu machen, fleißiger zu sein.

    1. Coool, danke Dir! Wow, Clock DVA machen ja eine ganze Europatournee scheinbar. SChade ist, dass wir dieses Jahr sogar nach Italien fahren in Urlaub, aber nicht an diesem Wochenende dort sind… naja, ich hab sie ja in voller Pracht beim WGT gesehen. Das wirkt noch ein Weilchen nach…

  2. Die von Dir angesprochene Frau bei „Clock DVA“ könnte Adi Newtons Angetraute (Jane Radion Newton) gewesen sein. Ich habe mal gelesen, dass sie wohl als Bandmitglied zu bezeichnen ist. Doch meine Kenntnisse im Bereich „Industrial“ sind als überaus rudimentär – um nicht zu sagen: kaum vorhanden – zu bezeichnen. Deshalb: ohne Gewähr.

    Wir waren am Montag auch kurz im Volkspalast-Kuppelhalle-Pantheon-Messehalle16-oder-welchen-Namen-das-Gebäude-nun-auch-immer-tragen-mag. Ich fand die „Stimmung“ überaus angenehm. Das Publikum war doch (überraschenderweise?) relativ durchgemischt und hat so die Vielfalt des WGT und der Szene gezeigt.

    1. @Jana: Na das freut mich ja, dass Clock DVA schon gleich das nächste Konzi geplant haben. Das gibt Hoffnung, in der Tat. Warschau im November ist bei uns eher nicht drin, aber wenn ihr doch hinfahren solltet erwarte ich mit Spannung Deinen Bericht.

      @Marcus: Oh aaah, das kann sein, dass es seine Frau war. Sie hatte wallendes, lockiges, rotbraunes Haar. Wahrscheinlich hast Du damit recht. Wer sollte es auch sonst gewesen sein? Clock DVA auf „Familienfahrt“ 😉

  3. Wirklich interessant zu lesen. Vorallem da das fast alle Konzerte sind die ich auch sehen wollte, jedoch aufgrund der Übermacht an guten Goth Rock/Dark Wave Bands nicht sehen konnte. Diamanda Galas sollte ja letztes Jahr schon kommen, deshalb hoffte ich, dass sich da nix überschneidet, aber so ist das auf dem WGT ja jedes Jahr…

    Die Trommel-Anarchie ist auch sehr cool^^ Und Clock DVA wären wohl wirklich noch ne Überlegung gewesen…. Naja man kann nicht alles haben…

  4. Toller Bericht, du verstehst es wirklich einen an deinen Erlebnissen teil haben zu lassen!
    Vom Gristleizer habe ich zwar schon gelesen, aber ihn so bewusst zu hören und bei der Arbeit zu beobachten ist natürlich nochmal ganz was anderes… Ich brauche einen! 🙂

    1. @Karnstein: Danke *freu* Ja, seit ich das gesehen habe, will ich auch einen Gristleizer! Vielleicht kommen noch paar Interessenten zusammen, dann können wir eine Gristlesammelbestellung aufgeben. 😉

      @Roman: ‚Unruh-iges Experiment‘ – schade, dass der Ausdruck nicht von mir kommt, coool! Sogar 6 Blasen… oha, aber immerhin hast du ja auch ne 3/4-Stunde getrommelt! Und ja, seelig-entrückt warst du auch…

  5. Hi Du,

    sehr schoener Bericht eines wahren Fans!

    Na klar musste ich sehr bei den Zeilen zum Unruh-igen Experiment schmunzeln. Im Uebrigen hatte ich sechs Blasen, aber alle waren es wert!
    Nur die Schnittchen habe ich nicht gesehen…war wohl etwas entrueckt…

    Bis demnaechst.
    Roman

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