De Mummies

Die Mumien von Wieuwerd (Niederlande)

Holland und der Grusel? Tja, gar nicht so einfach in einem Land, in dem fast alles sprachlich verniedlicht wird und wo man mit dem Begriff „Monster“ kostenfreie Warenproben bezeichnet. Wo ich schon am Mittwoch beim Blick über die flachen Wiesen sehe, wer mich am Sonntag be- oder heimsuchen wird. Doch ich liebe die Niederlande und meine Familie hat schon über 50 Jahre sehr liebe Bekannte in Friesland. Bei unserem letzten Besuch 2005 zeigten sie uns auch etwas Skurriles: die „Mummies“ in Wieuwerd (friesischer Ortsname: Wiuwert). Die werden ganz niedlich „Mümmies“ ausgesprochen, sind aber alles andere als das. Die Mumien haben den Einwohnern der kleinen 260-Seelen-Gemeinde bei ihrer Entdeckung einen gehörigen Schrecken eingejagt.

Die Nicolaaskerk in Wieuwerd mit dem Mumienkeller (Bildquelle: by Tukka, Wikimedia Commons)
Die Nicolaaskerk in Wieuwerd mit dem Mumienkeller (Bildquelle: by Tukka, Wikimedia Commons)

Wieuwerd in Friesland liegt zwischen den Städten Sneek und Leeuwarden. Der Ort ist klein, absolut unspektakulär und auch bei den Niederländern ziemlich unbekannt. Wenn man nichts von den Mumien weiß, kommt man hier nicht her und dass sich der Mumienkeller (Grafkelder) in bzw. unter der Kirche in Wiuwert befindet, das steht auch nirgends – erst am Eingang zum Kirchhof. Ein echter Geheimtipp also.

Die Kirche von Wieuwerd ist eher klein im Vergleich zu den sonst sehr wuchtigen, friesischen Kirchen. Sie ist innen sehr hübsch ausgestattet. Im Gang zwischen den Kirchenbänken, kurz vor dem Choraltar, befindet sich der Zugang zum Mumienkeller unter der Kirche. Der Eintritt kostet 2 € pro Person.

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Die Kirche von innen – links vor dem Geländer geht es hinab in den Keller
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Interieur-„Infografik“ mit viel Liebe gezeichnet

Schon von oben sieht man den ersten Sarg mit einer Mumie. Man steigt wenige Holztreppen nach unten und steht dann in einem kleinen Raum mit 4 schwarzen ‚doodskisten’ (Särgen). Von der Decke baumeln zwei tote und ebenfalls mumifizierte Hühner sowie ein Papagei. Die Temperatur ist spürbar ‚eigenartig‘ und eher feuchtkühl mit stetig leichtem Luftzug von zwei Fenstern (eher Luken), die sich gegenüberliegend in der rechten und linken Kellerwand befinden. In diesem Klima kann ich richtig ‚nachfühlen’, dass aus den hier gelagerten Leichen auf natürliche Art Mumien wurden. Denn sie wurden nicht einbalsamiert, sondern sind ausgetrocknet – jeder Leichnam wiegt nur noch 4kg. Dabei sind die Körper außerordentlich gut erhalten.

Irgendwie ist hier die Situation etwas eigenartig: dieser kleine Keller mit Schimmel an den Wänden, der auch der von meiner Uroma hätte sein können und nur 3 Meter obendrüber ein hübscher, tadellos gepflegter Kirchensaal. Unten wie oben fehlt jeglicher Pomp. Der Mumienkeller ist keine Kirchengruft in Marmor, wie man es oft sieht – daher vielleicht der krasse Gegensatz. Ähnliche Kontraste kenne ich nur von der Michaelergruft in Wien unter der Kirche St. Michael.

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Abstiegsszenario in den Mumienkeller

Rätselhafte Mumien

Als Gründe für die natürliche Mumifizierung gelten die ständige Luftzirkulation zwischen den Kellerluken, die niedrige Temperatur und konstante Luftfeuchtigkeit. Doch außer den klimatischen Bedingungen muss noch irgendeine „Spezialität des (Gottes-)Hauses“ mit im Spiel sein, die den Forschern seit Entdeckung der Mumien im Jahre 1765 immer noch Rätsel aufgibt. Man hat die Gruft woanders in ihren klimatischen Faktoren nachgebaut – ohne Erfolg.

Mit den toten Vögeln, die später zu Forschungszwecken an die Decke gehangen wurden, konnte die natürliche Mumifizierung im Keller erneut nachgestellt werden, nur eben außerhalb nicht.

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Vogelmumien – Papagei in der Mitte

Immerhin wurde festgestellt, dass die Höhe der Särge eine Rolle spielt. Diese stehen auch nicht direkt auf dem Erdboden, sondern ungefähr 40-50cm erhöht auf einem breiten Mauersockel. So kamen sie eher in den Luftzug zwischen den Kellerfenstern. Aber gibt es vielleicht etwas im Boden, was die Mumifizierung begünstigt? Die Mumien an der Nordseite sind in einer besseren Verfassung, denn dort ist es regelmäßig feuchter. Vielleicht Erdstrahlung oder der Boden gibt Gase frei? Das ist nach wie vor ungeklärt.

„Lekker temperatuur“ meinte auch unser holländischer Bekannter im Video, das mein Freund damals gedreht hat. Da unsere Kameraausstattung 2005 noch nicht so ausgereift war, hier ein super gemachtes, lustiges Video von einem holländischen Pärchen über die Mumien von Wieuwerd. Ich finde es etwas reißerisch aber zugleich sehr sympathisch – und das liegt nicht nur an der perfekt auf das Video abgestimmten Musik von Pink Floyd. Außerdem besuchen die Beiden wohl eher selten skurrile Reiseziele… 😉

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Absicht oder Zufall?

Ein weiteres Geheimnis ist, ob man früher von der ‚mumifizierenden Wirkung’ des Kirchenkellers wusste oder nicht. Wurden die Toten mit Absicht dort begraben?

Fledermaus-Wappen von Wieuwerd

Der Kirchenkeller war das Grab der adligen Familie Walta. Sie wohnte in einem großen Schloss nördlich von Wieuwerd und hat 1609 die Gruft unter der Kirche anlegen lassen. Adlige durften sich damals in Kirchen begraben lassen.

Drei Töchter der Walta-Familie waren Mitglieder der Labadisten-Sekte. Die Labadisten sind Anhänger der spirituell-pietistischen Glaubenslehre von Jean de Labadie. Das war eine separatistische Glaubensgemeinschaft, die in Kommunen lebte, in Hauskreisen betete und ein einfaches, urchristliches Leben führte. Sie wurden vertrieben und fanden letztendlich Zuflucht im Schloss Walta bei Wieuwerd.

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Die Labadisten glaubten an die Wiedergeburt im Dienst der sozialen Verbesserung der Welt. Daran, dass in allen Menschen ein göttlicher Funke wohnt, den es in der spirituellen Erfahrung der Wiedergeburt zu entzünden gilt. Es könnte daher auch in ihrem Sinne gewesen sein, wenn ihre Seele nach dem Tode kein Skelett oder nurmehr Staub vorfindet, sondern einen gut erhaltenen Körper. Aber auch das ist ungewiss und wenn es bekannt war, so kann es höchstens ein Experiment gewesen sein, eine Vermutung der Labadisten, weil sie vielleicht das Klima dort im Keller ebenso gespürt haben wie ich. Aber sicher keine absichtliche Auswahl des Kirchenkellers aufgrund von Gewissheit. Das kann ich mir jedenfalls nur schwer vorstellen.

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Der Mann mit dem Kieferabszess *aua*

Vier Mumien mit Seele

Im Grabkeller sind Waltas begraben, aber auch Labadisten. Von ursprünglich 11 Mumien sind nur noch 4 übrig geblieben:

–   der Goldschmied namens Stellingwerf (nachweislich ein Labadist)

–   die vergessene Frau

–   der Mann mit der Kieferentzündung (Kieferabszess)

–   das 14-jährige Mädchen, gestorben an Tuberkulose

So werden die vier Mumien in einem laminierten Infoblatt beschrieben, dass wir beim Besuch als Leihlektüre erhalten. Dadurch bekommen die Toten etwas von ihrer Geschichte und Seele zurück. Der Mann mit dem Kieferabszess sieht durch eben diesen wirklich schaurig aus und er muss unter wahnsinnigen Schmerzen verstorben sein. 400 Jahre später tut mir das immer noch ‚mit weh’.

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Der Goldschmied

Die toten Vögel wirken auf mich zuerst makaber, auf den zweiten Blick grotesk – vor allem, weil sie sich ‚stimmungsvoll’ in den Scheiben der Särge spiegeln…

Vor eurem Besuch kann es nicht schaden, wenn ihr ein paar morbide niederländische Vokabeln übt. Das ein oder andere Wort sorgt vielleicht auch für etwas Erheiterung, falls ihr sie nötig haben solltet:

Särge – doodskisten

Leichen – lijken, kadavers

Mumie – mummie (sprich: mümmie)

Totengräber – doodgraver

Schädel & Gebein – schedel en botten

Begräbnis – begrafenis

Grab – graf

Das „g“ wird im Niederländischen wie ein rauhes, kehlköpfiges ch ausgesprochen, wie im deutschen Wort lachen. Wer sich generell ein bisschen für Niederländisch und unsere Nachbarn interessiert, dem lege ich den tollen Niederlande-Blog von Alexandra ans Herz, der mich auch zur morbiden Vokabelliste inspiriert hat ;-).

Noch mehr Mumien-Bilder gibt es auf diesem niederländischen Blog zu sehen.

Route planen zu den Mumien von Wieuwerd im niederländischen Friesland

Eine Seite für euch mit den wichtigsten Infos – zum Herunterladen & Mitnehmen auf Reisen: Gratis-Download Gothic Guide Mumienkeller Wieuwerd

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10 Kommentare zu „De Mummies“

  1. Hi, wie spannend, noch nie etwas von der Kirche gehört, aber nun will ich unbedingt hin. Bin über google auf Dein Artikel gekommen, weil ich gerade über Anna Maria Schurmann recherchiere, die nach dem Tod von Jean de Labadie die Führung der Labadisten übernahm und im Schloss Walta starb. Spannend! Sie war die erste Frau in Europa, die eine Uni besuchen durfte.
    Somit freut mich der Zusammenhang sehr 🙂
    Viele Grusels!

    1. Liebe Eva,
      lustig, was es doch manchmal für Wege nimmt, auf denen Du (wieder) zu mir findest. Ich freue mich, Dich mal wieder inspiriert zu haben und hoffe, es gibt die Kirche mit den Mumien noch. ABer Mumien sterben ja nie. 😉
      Liebe Grusels
      Shan Dark

  2. Tolle, ausführliche Beschreibung. Diesen Sommer habe ich es auch endlich mal geschafft, die Mummies zu sehen. Wirklich faszinierend, auch der Kontrast zwischen Kirche und Grabkeller.

  3. @Shan Dark
    Mumien-Sightseeing…da musste ich echt mal schmunzeln – wäre das nicht eine neue Rubrik für den Schwarzen Planeten? 😉

    Schade, die von dir besuchte Ausstellung in Mannheim ist völlig an mir vorbeigegangen, aber vielleicht wird diese mal wiederholt? In Mannheim hatte ich mal die allererste Körperwelten-Ausstellung besucht und bestimmt 3 Stunden in einer nicht enden wollenden Menschentraube angestanden (und es war verdammt heiß an diesem Tag). War bei der Mumien-Ausstellung auch so ein enormer Andrang gewesen? Ist es nicht immer wieder erstaunlich, dass auch die breite Bevölkungsmasse von den Verarbeitungsmethoden toter Überreste fasziniert und angezogen wird?

    Der Windeby Mumie konnte ich im Landesmuseen Schloss Gottorf eine Audienz abstatten, da war „sie“ allerdings noch eine „Sie“ und noch kein „Er“ 😉

    1. @Madame Mel: Eigentlich hast Du recht mit der eigenen Rubrik, weil ich noch so einige Mumien-Reiseziele in petto habe – das würde sich fast lohnen.
      Das heißt, die Mumie von Windeby liegt normalerweise ‚fest stationiert‘ in dem Landesmuseum Schloss Gottorf?
      Ich weiß nicht, ob diese Mumien-Ausstellung noch mal wiederholt wird. Sah ziemlich einmalig aus, die hatten sich ja extra dafür auch die Mumie von Windeby „ausgeliehen“. Aber falls ich was mitkriege davon, werde ich bescheid sagen. Nein, es war kein allzu großer Andrang, ich glaube wir mussten nicht anstehen. Hatten vielleicht auch einen günstigen Tag erwischt… denn allgemein war die Ausstellung schon ein echter Publikumserfolg und sehr gut besucht. Am längsten hab ich bisher bei der Tiefsee-Ausstellung in FFM angestanden, die vor 1-2 Jahren durch Dtl. getourt ist. Bestimmt auch so 3 Stunden. Puh…

  4. „Der Papagei ist tot“ …

    Folgende Fragen die mich brennend interessieren:

    Kann man das Grillhähnchen bzw. das Dörrfleisch eigentlich noch essen ?

    Habt Ihr mal ein Stück probiert bzw. daran genuckelt ?

    Ansonsten ein echt schöner Bericht, wenn er auch Fragen aufwirft 😉

    1. Der Papagei fasziniert Euch ja fast mehr als die Mumien 😉 – hätte ich nicht gedacht! Aber ist ja auch eine seltene Mumie.

      @El Mariachi: 😀 Nun, so verhungert, dass wir ein Stück Trockenhuhn probiert oder ‚abgenuckelt‘ hätten, waren wir dann doch nicht…

      @clerique noire: Vielleicht sollten wir das umdichten auf „Der/die hat doch einige Mumien im Keller.“ Schön, dass Dir auch unser Video gefallen hat.

      @Madame Mel: Wow, man könnte fast meinen, Du hast Mumien-Sightseeing gemacht. Da hast Du wirklich schon viele gesehen – vor allem auf die Schrumpfköpfe könnt ich ja fast ’neidisch‘ werden, wenn ichs mal so sagen darf. Wo hast Du die Moorleiche von Windeby gesehen? Vielleicht auch in der Mumien-Ausstellung, die hier vor paar Jahren mal in Mannheim stattfand? Da war ich auch http://www.rp-online.de/wissen/umwelt/Die-Mannheimer-Mumien_bid_27519.html und hab sie dort gesehen. Die Ausstellung war echt klasse!

      @Alexandra: Ich bin gespannt auf Dein Gruselvokabular! Ich hoffe, bei mir war soweit alles richtig? Gern werden Synonyme oder Ergänzungen entgegen genommen.

  5. clerique noire

    Sehr schön düster.
    Man meint ja nicht, wer alles eine Mumie im Keller hat. Aber so klein und versteckt ist es doch allemal schaurig-schöner.
    Übrigens fand ich eurer Video stimmungsvoller, das andere mußte ich nach 40s beenden.

  6. Oha, Mumien… da werde ich gleich mal hellhörig 😉 Die Gruft befindet sich leider in einer holländischen Ecke, wo ich (so schnell) nicht hinkommen werde. Ich behaupte jetzt einfach mal, schon einige tote Überreste gesehen zu haben – angefangen von der Moorleiche von Windeby, den Katzen- und Menschenmumien im Ägyptischen Museum Kairo, verschiedene mumifizierte Mönche in Thailand und Kambodscha oder Schrumpfköpfe in Malaysia – aber ich kann mich nicht erinnern, dass jemals ein Papagei dabei war. Vor allem die Art der Präsentation ist ja echt … skurril. Erinnert mich ein wenig an eine Schlachterei, nur weniger frisch 😉

  7. Faszinierend – das will ich mir echt mal anschauen, sollte ich mal in der Gegend sein. Bei mummies denke ich in erster Linie an das alte Ägypten, nicht an meine Heimat …

    Dankeschön für die Verlinkung auf mein Blog! Den Folgebeitrag auf „buurtaal“ zu niederländischen Gruselwörtern habe ich übrigens nicht vergessen. Ich glaube, der ist bald mal dran 😉

    Groetjes
    Alex

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