Survival-Tipps: Goth at work

Nein, man hat mich nicht eingeschläfert. Es ist hier nur so still, weil es beruflich gerade so laut ist. Ich reise von Mainz nach Bonn nach Berlin zurück nach Mainz und wieder nach Bonn. Dabei arbeite ich im Online Marketing und könnte das alles remote machen. Aber Vorträge halten und Netwörking erfordern immer noch körperliche und manchmal sogar geistige Anwesenheit. Noch dazu bin ich ein Corporate Slave 😉 und Home Office ist nicht gern gesehen. Also schleife ich meinen Körper täglich zur Tür hinaus und abends wieder hinein. Und auf Arbeit können wohl die Wenigsten von uns ihre dunkle Seite so zeigen wie in der Freizeit. Aber wie bleibt man Goth trotz Kleidungscodex in der Firma und Erwartungen des Chefs und von Kollegen? Es sind manch saure Äpfel dabei, in die man beißen muss. Nicht jeder hat das Glück, sein eigenes Tattoo-Studio zu besitzen, in einem Plattenladen, Friseur oder Musikstudio zu arbeiten – selten ist das Aussehen passend oder sogar förderlich für den Beruf. Auch wenn in unseren Zeiten Piercings, Tattoos[1] oder manch schräge Body Modification niemanden mehr schockieren – wenn’s ums Geld und das heilige Firmenimage geht werden oft andere Maßstäbe gesetzt.

Ich habe aus meinen persönlichen Erfahrungen im Arbeitsalltag ein paar Survival-Tipps abgeleitet, mit denen ich bislang erfolgreich bin ohne meine Seele zu verkaufen :). Vielleicht helfen sie euch auch und ich bin natürlich sehr gespannt auf eure Erfahrungen.

Gothic-Sein oder Nicht-Sein auf Arbeit?

Tipp 1: Zeig wer Du bist, aber in homöopathischen Dosen.

Dem eigenen Kleidungsstil zu entsagen für eine Handvoll Dollar – darauf haben viele keine Lust. Ich auch nicht. Aber wenn man auf den Job wirklich angewiesen ist oder ihn beim Bewerbungsgespräch unbedingt haben möchte, sind Kleidung und Aussehen nun mal entscheidend. Ich halte es da mit dem Motto „Reduce to the max“, das ich gleich erkläre.

Fast jeder Job, Ausbildungsstelle und Position lässt ein Mindestmaß an persönlichem Stil zu. Selbst wenn man eine Betriebsuniform oder Schutzkleidung tragen muss, sind Ohrringe, ein Piercing oder schwarzer Lidstrich möglich. Ausnahmen: Personen in Forschungslaboren mit gefährlichen Kontaktstoffen (die in den weißen Raumanzügen mit den Imkerhelmen auf) und Ärzte im OP, die aufgrund von Quarantäne-Schleuse und Mundschutz leider eh nur ein wandelndes Augenpaar unter vielen sind. Alle anderen haben einen mehr oder weniger großen Freiraum zur Selbstexpression über Kleidung und Accessoires. Oberste Regel: anders sein, aber immer gepflegt.

schwarzes-schaf-goth-at-workReduce to the max –> Reduziere Deinen Stil zu Beginn auf ein Minimum, mit dem Du Dich noch wohlfühlst, aber die neuen Kollegen nicht mit dir selbst überforderst. Die meisten verstehen uns ja sowieso nicht und haben einen anderen Geschmack (oder gar keinen). Es lohnt sich daher nicht, sie mit deinem Goth-Sein oder Aussehen beeindrucken zu wollen und von deinem Können abzulenken. Du steckst schneller in einer Schublade, als du zeigen kannst, was für eine/r du bist und was du drauf hast! Pech gehabt, wenn es die falsche ist.

Besonders bei der Kleidung habe ich bereitwillig Kompromisse gemacht. Ich halte es da mit dem alten Sprichwort: Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing. Natürlich nicht ganz so eng gesehen, aber ich passe mich an und trage auf Arbeit ‚Business Chic’. Eher unaufgeregte Klamotten – dafür fast immer in schwarz, ab und zu mit dezenten Akzenten in farbenfrohem Grau, Petrol oder Khaki („Oh, Du bist ja heute so farbenfroh!“). Problematisch waren als Berufsanfängerin meine Schuhe. In Doc Martens mit Stahlkappe konnte ich nicht erscheinen und was anderes hatte und wollte ich eigentlich nicht. Es dauerte etwas länger, bis ich Schuhe gefunden hatte, denen ich ohne Antipathie begegnen konnte.

Bei Schmuck und Accessoires lasse ich mir nicht reinreden und die Meinungen anderer sind mir so ziemlich egal. Ich würde es nur machen, wenn es hygienetechnisch oder arbeitsschutzrechtlich zwingend erforderlich ist – und das ist bei Computerarbeit selten der Fall. Wenn ein Chef oder Firma tatsächlich ein Problem mit meinem Piercing an der Augenbraue (und früher noch in der Nase), Kettenanhängern oder Ringen hat, hat man wohl auch mit anderen Sachen ein Problem. Davon gehe ich zumindest aus und dann es ist von vornherein not the perfect match mit uns.

Es ist schon Jahre her, da habe ich mich auf einen Vertriebsposten für Finanzdienstleistungen beworben. 😯 Muss ich damals verzweifelt gewesen sein! Beim Vorstellungsgespräch saßen zwei degradierte Finanzvorstände vor mir, hauchten vor jedem Satz etwas Staub aus und kneteten mich und meine Motivationen für den Job durch. Die einzige Motivation war wohl, ein Gefühl für den eigenen Marktwert zu bekommen und bewerbungstechnisch etwas in Übung zu bleiben. Den Kracher hoben sich die McMoneys für die letzte Frage auf: „Wären Sie denn bereit, für die neue Position ihr Piercing herauszunehmen?“ Welches Piercing denn? Ach so, MEIN Piercing. Es war und ist schon so eins mit mir, dass ich es gar nicht mehr wahrnehme. Es gehört zu mir. Ich antwortete erstmal verdattert mit „Ja, natürlich“, was mir vermutlich eine peinlich berührte Situation ersparte, aber spätestens damit kam die Stelle für mich nicht mehr in Frage.

Zum Vorstellungsgespräch rate ich auf jeden Fall das anzulegen, worauf du an dir selbst auf keinen Fall verzichten möchtest, wenn du die Stelle bekommst. Es ist falsch, total stino zum Gespräch zu gehen und dann in der ersten Arbeitswoche den Obergruftie raushängen zu lassen. Das ist nicht ehrlich, nicht authentisch und verprellt nur die Leute. Beim Vorstellungsgespräch für meine jetzige Stelle hatte ich an allen 10 Fingern Ringe. Es war mir sehr wichtig – das war ICH und ich legte sie früher auch nachts nicht ab. Ich wurde trotz der Silber-Overdose eingestellt, selbst mit zwei Piercings. Meine damalige Chefin – die ganz die Business-Karriere-Frau war – sagte ein paar Monate später zu mir: „Es war gut, dass Du deinen Schmuck damals auch so im Bewerbungsgespräch getragen hast. So wussten wir gleich, was auf uns zukommt und wir wären ziemlich irritiert gewesen, wenn Du erst im Nachhinein in voller Montur erschienen wärest.“

Du kannst also auch du selbst bleiben mit wenigen Dingen. Für den Business-Goth-Look kreativ zu werden kann sogar Spaß machen. Erstmal schauen, was beim Arbeitgeber vom Stil so (durch)geht. Nach und nach kannst Du ein Schippchen Goth drauflegen. Gibt es keine negativen Reakionen oder Anmerkungen „von oben“ oder von Kundenseite und hast du eine zunehmende Jobsicherheit erreicht, darf das dunkel-schräge Element gern immer mehr durchfunkeln. Je mehr Akzeptanz, desto mehr Goth. Allerdings ist der Spielraum endlich. Ich habe mittlerweile mein Maximum gefunden – den Rest lebe ich in der Freizeit aus.

Tipp 2: Got(h) Hair?

me-businessWichtig für Waves & Gothics schon immer: die Haare. Auch im Job geht da einiges und man kann Akzente setzen. Meine Faustregel seit Jahren: Hingucker ja, Schocker nein. Farbexperimente oder auch lange Haare bei Männern ja, Undercut oder mein Sidecut nein. Daher trage ich Mittelscheitel und der Sidecut ist bisher kaum jemandem aufgefallen (zumindest spricht mich kaum einer darauf an^^). Kräftige Farben und Strähnen kommen aber gut an. Diese Erfahrung haben auch Freunde von mir gemacht. Als ich jedoch mal nach einem eher missglückten Färbeakt zu Vertragsverhandlungen mit konservativen Schweizern anrückte – nämlich mit zwei frischen tiefschwarzen Strähnen, die mein Gesicht wie Pech umrahmten, war selbst mein echt toleranter (Lieblings-)Chef sichtlich geschockt. Ich sagte ihm hinterher, dass ich das Gefühl habe, es sei etwas „too much“ und murmelte mir ein Sorry ab. „Ach Frau L., bei ihren Haaren schockt mich gar nichts mehr“, sagte er nur versöhnlich.

Tipp Nr. 3: Nehmen die mich ernst?

Leider besteht die Gefahr, dass manche es nicht tun, wenn man nicht in das normal-seriöse Raster passt. Ich werde das wohl auch nie verstehen, weil ich völlig anders gepolt bin und es gerade toll finde, wenn die Kollegen oder Chefs einen erkennbar eigenen Stil haben oder irgendwie anders sind. Vom Aussehen schließe ich grundsätzlich nie auf die Kompetenz einer Person – da kann man ordentlich auf die Nase fallen.

Notausgang-gothic-at-workIch kannte mal einen Abteilungsleiter in der IT, mit dem ich öfters mal zu tun hatte und der sich immer abweisend und mürrisch mir gegenüber verhielt. Er vermied den Augenkontakt und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass er es kaum erträgt, wenn wir beide in einem Raum sind. Nun hat man nie überall Freunde. Aber ich konnte es mir bei ihm nicht erklären, war immer besonders freundlich und versuchte, ihn mit Worten etwas aufzulockern. Es half nichts. Irgendwann sagte mir ein vertrauter Kollege, der ihn gut kannte, dass er mir die übertragenen Kompetenzen nicht zutrauen würde „so wie ich aussehe“. Aha. Weil ich zwei Piercings im Gesicht und an jedem Finger einen Ring hatte?!? Das kann ich bis heute nicht verstehen. Auch Freunden von mir ist sowas ähnliches schon passiert. Besonders gern wird die Kundenkeule geschwenkt um die eigenen konservativen Abneigungen gegen den Look des Bewerbers zu rechtfertigen: „Ich bin mir sehr sicher, dass Sie dafür qualifiziert sind, aber sie wirken nicht seriös genug und unsere Kunden könnten Sie so nicht ernst nehmen.“ Okay. Danke fürs (Vorstellungs-)Gespräch.

Mit solchen Menschen muss man es einfach lassen und sie am besten ignorieren. Gern auch eine Prise Arroganz bei der nächsten Begegnung hinzufügen. Es bringt nichts, sich hier zu verbiegen, denn sie sind nicht zu überzeugen oder nur die Wenigsten. Mir ist es jedenfalls nie mit dem IT-Chef gelungen, aber als ich den Grund für seine Abneigung erfuhr hat mir mein Stolz verboten hier weiter „mit dem Schwanz zu wedeln“, den ich nicht habe. Wer derartige Vorurteile und Probleme mit jemandem hat, nur weil er anders aussieht und nicht ins vorgefertigte Raster passt, hat auch Probleme mit sich selbst. Auch ich habe gegen einige Menschen von vornherein Antipathie und bei so manchem Businessheini stellen sich mir die Nackenhaare auf. Aber ich bin trotzdem nicht festgejuckelt und gern bereit, diese zu revidieren, was schon paar Mal passiert ist.

Tipp Nr. 4: Wähle gut, mit wem Du „darüber“ redest.

Über Goth und die Welt unterhalte ich mich gern mit Gleichgesinnten. Aber nicht unbedingt mit Kollegen. Ich mag es nicht zu erklären, warum ich „so bin“, zumal das sowieso schwer zu erklären ist. Beeindrucken will ich damit auch niemanden, sowas Besonders ist es nun auch wieder nicht. Man sollte sich nicht zu wichtig nehmen – ich habe einfach nur einen anderen Geschmack. Ich möchte keine Extrawurst sein, sondern nur in Ruhe arbeiten können.

business-gothBei mir auf Arbeit wissen es nur wenige – wobei ich nicht weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist 😐 . Wirklich intensiv habe ich nur mit gerade mal einer Handvoll Leute darüber geredet. Die meisten in meinem Arbeitsumfeld – da bin ich mir sicher – merken es noch nicht einmal oder können es nicht einordnen, weil sie Gothic nicht so kennen. Ist auch gut so.

Sobald man es jemandem erzählt, macht man sich auch angreifbar. Nicht alle sind so tolerant wie meine Kollegen und Chefs. Manche erzählen, dass sich über sie lustig gemacht wird a la „Na, wart ihr am Wochenende wieder Gräber ausheben?“ – „Nein, den ganzen Friedhof.“ 😆  Auch wenn es nur als Scherz gemeint ist, mich würde es auf die Dauer nerven. Daher halte ich es lieber unter Verschluss. Wenn mich natürlich jemand darauf anspricht, ob ich Gothic bin, antworte ich gern mit „Gut beobachtet. Sieht man mir das etwa an?“. Anhand der Antwort merke ich dann schon, ob ich mit demjenigen intensiver darüber reden möchte oder nicht.

Tipp Nr. 5: Trenne online Job und Goth.

Nur dann wichtig, wenn dein Beruf mit Gothic nichts gemeinsam hat und dir eine Verknüpfung deines richtigen Namens mit deiner düsteren Seite nichts oder gar Nachteile bringt. Man muss halt immer davon ausgehen, dass es beruflich mit der Toleranz nicht allzu weit her ist.

Bei mir haben Gothic, Reiseziele, Morbides & Skurriles jetzt wenig mit Online Marketing zu tun. Einige Kenntnisse aus meinem Beruf nutze ich zwar für den schwarzen Planeten, aber thematisch trenne ich das sehr strikt. Ich trenne daher auch meine dunkle und berufliche Seite im Web und in sozialen Profilen. Beruflich bin ich mit meinem echten Namen unterwegs, bei Xing und Google+ und bei berufsbezogenen Kommentaren in anderen Blogs (meistens). Bei Goth-Themen bin ich Shan Dark. Der einzige Kanal, wo sich das etwas unschön mischt, weil man nicht gruppenbezogen senden kann, ist Twitter. Da werdet ihr auch mit meinem Jobzeugs zugedingst, aber ich nutze Twitter auch eher beruflich als Infoquelle statt privat (da eher Facebook).

Natürlich findet man durch Online-Recherchieren auch trotz dieser Trennung schnell heraus, dass ich nicht die typische Marketingtussi bin, sondern schwarz angehaucht. Aber das muss einem nun nicht gleich bei Google auf Seite 1 ins Auge springen, oder? Ich möchte Fremden nicht sofort auf die Nase binden, was mich privat bewegt. Zudem ist manches hier auf dem Planeten auch grenzwertig für zarte, bislang davon unberührte Gemüter – und vielleicht verschließen sich dadurch einige Job-Türen?

Daher bin ich online quasi eine gespaltene Persönlichkeit. Ich füge nichts hinzu, sondern lasse bei jedem Profil nur das andere Ich weg. Aber ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, wenn auch manchmal bisschen kompliziert. Macht das eigentlich noch jemand so? Ich kenne viele, die nur mit ihrem Nick online sind, aber kein Profil für ihren richtigen Namen haben, weil Web-Suchergebnisse für ihren Job auch nicht wichtig sind (wenn man im Online Marketing arbeitet, ist es das schon). Auch gibt es einige, die beides verbinden und ihr Goth-Sein im Beruf nach außen tragen, wie z.B. der Forensiker Mark Benecke (Zitat: „Wenn Du jemandem nützt ist es völlig egal, wie Du aussiehst.“) oder auch Prof. Dr. „Dunkelmunkel“ Spannagel.

Wie überlebst DU auf Arbeit?

Hattest du bislang die megatoleranten Chefs und Kollegen? Bist du auch schon mal/öfters angesprochen worden auf deine Haare, Schmuck oder Kleidung? Redest du mit deinen Kollegen darüber und wissen sie bescheid?

Lasst wissen! Mich interessieren eure Erfahrungen und Meinungen sehr – auch die von Anderen, nicht unbedingt nur auf Gothics bezogen.

Gern können die Blogger unter euch auch einen eigenen Blogpost dazu schreiben. Ein Link in eurem Artikel hierher wäre nett; ich nehme euren Beitrag dann auch hier mit auf. Bin gespannt!

 

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  1. [1] In Deutschland ist bereits jeder 10. tätowiert – ich hätte gedacht, es sind noch mehr.

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