Das vierfache Weh

The Cold View –
Wires of Woe, Ways of Waste

Mein Therapeut hat mir empfohlen, ich soll meiner Vorbelastung folgen, auch wenn sie Doom Metal und in diesem speziellen Fall sogar Funeral Doom Metal heißt. In den düsteren Klanglandschaften, die über Gitarren, Keyboards oder Synthie gelegt werden könne ich mein allzu oft ungruftig fröhliches Gemüt etwas abkühlen. Denn wen bei Funeral Doom nicht sofort eine eiskalte Düsternis anfällt, der begebe sich in sein Gefrierfach und schließe die Kühlschranktür.

Nun ist mittlerweise ja erwiesen, dass traurige Musik gut tut, vor allem wenn man Kummer hat. Doch auch, wenn ihr wie ich keinen habt, möchte ich gern diese musikalische Therapiestunde mit euch teilen. Die Auswirkungen sind mental erfahrbar, aber körperlich unbedenklich. Weder ist zu Funeral Doom schon mal jemand adrenalingeschwängert durch den Raum getanzt noch sind Fälle der selbsttätigen Rückgabe des Lebenslöffels bekannt, die eindeutig auf diese Musik zurückzuführen wären. Funeral Doom erfordert einfach nur Hingabe, Einhören und Hinfühlen – idealerweise des Nachts im Kerzenlicht mit einem alkoholischen Getränk vor der Nase. Oder auch ganz ins Dunkel gehüllt lauschend vor sich hinliegend. Fertig soweit? Gut. Dann lege ich jetzt mal meine momentane Lieblings-Bestattungs-Untergangs-CD von The Cold View ein.

Beim Hören von The Cold View empfiehlt es sich, wie der Bandname schon sagt, innerlich einen kalten Blick aufzusetzen. Mit dieser kühlen, die Welt befremdlich findenden Sichtweise vertont Musikmacher A.A.S. seine Emotionen und Gedanken. Übrigens betrachteten auch einige Philosophen der Avantgarde zwischen 1910-30 gesellschaftliche Verhältnisse mit diesem „kalten Blick“. Fasste A.A.S. im Debüt „Weeping Winter“ noch seine inneren Winter-Konflikte in tiefdüstere Töne, so tritt er im zweiten Album aus sich heraus und beschäftigt sich musikalisch mit der Kälte der modernen Gegenwart und Gesellschaft, der Entfremdung von Natur und Zivilisation. Dieses Hauptthema spiegelt auch die Booklet-Gestaltung des diesmal endlich auf CD erschienenen Tonträgers oder das weltschmerzige Wortspiel des Albumtitels mit den vier W – „Wires“ of „Woe“, „Ways“ of „Waste“ wieder.

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„Wires“ beginnt wie ein vor Kälte knarzender Eissturm, an alten, echten Industrial a la Cabaret Voltaire erinnernd. Überhaupt ist Track 1 in meinen Ohren das am exzessivsten überarbeitete Stück, mal abgesehen von einer melancholisch tiefenwirksamen Minute mit gedronedter Akustikgitarre. Es ist auch das längste Stück mit 18 Minuten Spielzeit. Doch die anderen Tracks versprechen ebenfalls je mehr als eine Viertelstunde Düstergenuss. „Woe“ geht verhältnismäßig gut vorwärts, kommt für mich manchmal schon fast martial-kämpferisch daher, was an den im Hintergrund mal schneller, mal langsamer mitlaufenden Drumsequenzen liegt. Es läutet langsam aus mit Gitarrensaiten, die wie das Glockenspiel einer Spieluhr gezupft sind. Dann startet brachial #3 „Ways“. Ein sehr finsteres und kompaktes Stück, mit fast durchgehend intensiven Grunzlauten (Growls), die stärker im Vordergrund sind als bei den anderen Stücken. „Waste“ beginnt daraufhin sanft, mit moll-igen Streichertönen, um dann in intensive Growls und später in gequälte Gitarrenriffs überzugehen. Es geht trauervoll auf symphonische Art zuende.

Rhythmusarm, getragen, düster, als würde man sich herzensschwer in einem Trauerzug dahinschleppen schleifen sich die Töne über die Erde, wird man hin und wieder von symphonischen Arrangements und orchestralen Zäsionen aufgeschreckt. Untermalt wird alles von A.A.S.‘ langanhaltenden Growls aus der Tiefe, zu denen es auch einen Text gibt, den man im Booklet nachlesen kann – und muss (!).

Blocked by heavy black buildings,
trash and dirt allow no passing,
wet by the rain and mist.
Nothing that could reflect a light.

There even is no light anymore,
so the ruins can’t cast shadows.

Day and night are melting to a
viscous mass,
time has no room where life is
finally erased.

Lyrics zu „Ways“

Auch das zweite Album von The Cold View klingt für mich wieder harmonisch düster. Es spiralisiert sich mit jedem Stück nach unten in den Abgrund der Seele, schleift Gedanken hinter sich her und ist dabei niemals dissonant. Einzelne Kältefelder lösen andere ab – mal läuft das Ohr leichter darüber, mal schwerer.

Diesmal habe ich auch kein Lieblingsstück – es ist die Gesamtheit aller vier, der düstere Reigen ist perfekt aufeinander abgestimmt. „Wires of Woe, Ways of Waste“ klingt im Vergleich zum wirklich kältezerfressenen, abgrundtiefen ersten Album „Weeping Winter“ nicht mehr ganz so düster und hoffnunglos, aber immer noch trostlos und finster genug. Rhythmusarm, aber nicht so festgefroren wie im Debüt. Die einzelnen Instrumente haben mehr eigenen Raum und dadurch Wirkung, sind nicht so stark miteinander verschmolzen, sondern effektvoller arrangiert. Die Grunzlaute/Growls sind stärker verfälscht und unverständlich, bleiben aber für meine Ohren mehr im Hintergrund als beim Debüt. Auffallend sind auch mehr Gitarren, die extrem manipuliert und mit Effekten überlegt wurden, dafür weniger Synthies. Wenn es nach mir ginge, könnten die aber gern im nächsten Album wieder etwas aufgedreht werden.

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Insgesamt würde ich sagen: hier meint es jemand ernst. Man kann sich dazu im Welten- oder Menschenhass suhlen ohne Gefahr zu laufen, einen Hoffnungsschimmer zu entdecken. Oder wenn man alles toll und positiv findet, mal in eine ganz andere Welt abtauchen. Wer zum Hören einer Beschäftigung nachgehen möchte, sollte es wie ich mit Nähen versuchen. Funeral Doom wie dieser lenkt nicht ab und die schleifenden, repetitiven Töne unterstützten meine Geduld (das, was man beim Nähen am meisten braucht 😉 ).

„Wires of Woe, Ways of Waste“ ist wie erwähnt auf CD erschienen – limitiert auf 200 Stück, mit einem 6-seitigen Booklet, allen Texten und Bildern, die im oft endzeitlich anmutenden Darmstadt aufgenommen wurden. Wenn euch also die Musik-Therapiestunde gefallen hat, könnt ihr das Album hier für nur 8 € erwerben. Passend zur Musik bewahre ich meines im Eisfach auf. 😛

 

Mehr lesen und hören hier:

The Cold View im Interview bei Decibel  – bei Vendetta – oder eine Rezension mit Vantablack (zu deutsch: Nanoblack)

The Cold View bei Facebook

 

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11 Kommentare zu „Das vierfache Weh“

  1. Hi Shan,

    von „Show“ kann man nicht wirklich sprechen 😉

    Ahab hat auf dem Summerbreeze auf der Tentstage gespielt (einem großen Zirkuszelt). Das Ding ist stockfinster, auch tagsüber schon. Intro sind Walgesänge *fieeep* und dann kommt irgendwann nochmal der ruhige Gesangspart dazu…

    .. der urplötzlich in eine Growlattacke umschlägt. Das Ganze von eine sehr atmosphärischen Lichtshow, ohne großes Hin und Hergezucke, untermalt.

    Mich hat es auf jeden Fall komplett verschickt 😉

  2. Kann Dir Ahab empfehlen… die haben mich auf dem letzten Breeze so weggeblasen. Jahrelang hab ich mich gegen FD gewehrt, aber nachdem ich die Jungs von Ahab live, mit der entsprechenden Show gesehen habe… krasser Scheiss.

    Die „The divinity of oceans“ ist etwas rauher aber auf jeden Fall eher der „Hinhörer“ als die „The giant“…

    1. Danke Stef, auf deine Empfehlung hin höre ich gerade Ahabs „The Call of the Wretched Sea“ – ist genial! Die anderen beiden gebe ich mir auch noch. Machen Ahab live richtig Performance und was für eine Show? *spannend*

  3. A Quietly Forming Collapse

    The weight upon me
    In the shape of buildings
    Crushing hope
    A white sky collapse

    The stain of a broken life unfolds
    Through the ashes I walk
    My hands soaked with blood
    From the burial of my heart

    In the depths
    A quiet cold
    Forming muted will

    The sun collapse into the nether
    Blood on my hands forever
    Forever

    The river only brings poison
    The well brings nothing but tears
    Nothingness becomes the shadow
    The shadow turns into me

    These hands…
    Was meant for greater things
    These hands…
    My heart…
    Clenched and leaden winged
    My heart…

    Inside the sickness
    This coil of darkness
    Breathing lifeless

    The sun collapse into the nether
    Blood on my hands forever
    Forever

    Einfach sehr geil, wie das komplette Album von Doom:VS – Earthless
    (Draconian Sideproject), aber neuerdings mit der Stimme von Tomas Andersson (Saturnus)….macht jedenfalls genausoviel Fun wie ein Gutes Foto,
    und besser als (schlechter sowie allgemein) Sex auf jedenfall. 😀

    dF

  4. @Shan

    einen coolen Therapeuten scheinst Du da zu haben..was ich allerdings allgemein gar nicht mag – heutzutage hat jeder wo sich „Gothic“ schimpft mindestens 1-3 Macken, oder sagen wir: virtuell antrainierte Macken…wer nicht Dauerdepri ist, oder Borderliner, oder schizo,
    etc findet in der Gruppe keine Beachtung, so erscheint es mir langsam…und das ist geradzu eine Verhöhnung von Leuten, die wirklich an Depressionen leiden…ich weiß wovon ich rede, ich hatte jahrelang welche, alles andere als schön…und Flashbacks gibt es natürlich immer wieder…aber am Besten finde ich die Leute, wo oftmals gerade mal Anfang bis Mitte 20 sind, und dann einen vom Pferd erzählen, von wegen wie es früher war….dumm gelaufen, wenn diese Ende 30 oder Anfang 40 wären, könnte man ihnen glauben…aber nicht in dem Kidsalter… nichts für ungut. 🙂

    dF

  5. Funeral Doom ist nichts Neues, ich höre es seit Ewigkeiten..je nach Stimmung…z.B. das grandiose Thergotton – Streams from the Heavens Album, ist aber nichts für psych. instabile Menschen…bei derartigen Alben könnten manche einfach nur ritzen…und ich hatte eine Freundin die Borderliner extrem war… aber nicht wegen Funeral Doom.

    Wer Lust hat, mal in das Genre reinzuhören ohne vorbelastet zu sein (z.B. Hardware Industrial oder EBM’ler Typ) sollte mal folgende Bands auf die Ohren knallen:

    Skepticism
    Thergotton
    Evoken
    Esoteric
    Shape Of Despair
    Ahab

    Und aus dem melodic Doom/Death Metal Genre:

    Draconian
    Saturnus
    Katatonia
    Swallow The Sun
    Desire
    Mourning Beloveth
    Officium Triste
    Slumber
    Rapture
    Ophis
    Wine From Tears
    Forest Of Shadows
    Doom:VS
    Daylight Dies
    Morgion
    October Tide
    Inborn Suffering
    Mourning Lenore

    …um nur mal die Wichtigsten zu nennen, ein jeder mag andere Präferenzen haben,
    ich brauche solche Music täglich, um den Tag zu überstehen…ferner kann ich am Besten
    abschalten beim Bearbeiten meiner Fotos, zumeist Statuen & Co, wenn ich diese Bands
    im Ohr habe…dann kommen mir auch die Besten Einfälle & Ideen…

    Carpe Noctem
    dF

  6. Na das ist ja eine Freude, einen Artikel zu lesen bevor mich die Ankündigungsmail erreicht hat….
    Gleichmal gelauscht um die unerfreuliche Nachtarbeit erträglicher zu machen. Musikalisch sehr schön, aber dieser „Gesang“ törnt mich leider total ab. Dieses Gegrunze oder wie man es nennen mag, gefällt mir leider gar nicht.
    Ansonsten war Dein Artikel ein Genuss, liebe Shan Dark!

  7. Ein sprachlich sehr gutes, anspruchsvolles und kreatives Review! Du solltest vielleicht öfter Alben rezensieren. Auch sehr gut ist das Foto mit der CD im Gefrierschrank, da muss man erst einmal darauf kommen! Vielleicht wäre Produktfotografin eine neue Berufung für Dich?! 😉

    1. Danke Dir 😉 das mit der CD im Gefrierfach war eine spontane, eiskalte Eingebung! Aber Produktfotografin NEIN. Das wäre mir viel zu langweilig. Auf meinem Grabstein würde dann stehen: „Jetzt ist sie so tot wie die Objekte, die sie immer fotografierte.“ Ach nein!

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