Gastbeitrag r@zorbla.de – Der schwarzbunte Mann

Oder: Ist Gothic (m)ein Lebensstil?

Eigentlich ist die Frage ungültig. Da wir aber schon mal hier sind: Nein. Genauer gesagt „Nein, aber“. Das kann man auch umformulieren in „Ja, aber“.

Klar soweit? 😯

Die Hauptprobleme dabei bestehen zunächst in der Begrifflichkeit an sich. Die Auffassung von „Gothic“ ist ja schon nicht immer eindeutig. Je nach dem, ob man es szenehistorisch herleitet oder rein eigenschaftsbezogen.

Beim Begriff des Lebensstils kommt es darauf an, ob man eine umgangssprachliche oder wissenschaftliche Sichtweise vorzieht (wovon es auch jeweils noch mehrere gibt) und ob man damit einen bestimmten und/oder einen bestimmenden Aspekt meint. Umgangssprachlich ist das oft so einfach wie „Ich lebe vegan“ (Ich meine mit „einfach“ die Aussage nicht das vegane Leben) oder „ein verschwenderischer Lebensstil“. Das zeigt schon, dass man bestimmende Eigenschaften eines Lebensstils nennen kann, ohne konkret zu benennen wie der Lebensstil aussieht. Eine weitere Frage: Ist „verschwenderisch“ dann alleine schon ein Lebensstil? Darüber, ob Verhaltensformen dem Lebensstil zuzuordnen sind, scheint auch keine Einigkeit zu herrschen.

Nimmt man die Auffassung her, daß ein Lebensstil durch Freizeitpräferenzen ausgedrückt wird und inhaltlich die soziale Distanz zu verschiedenen Gruppierungen bestimmt, dann ist Gothic auf jeden Fall ein Lebensstil. Ganz egal, wie man Gothic hier versteht.

Zuuuul
Zuuuul!

So könnte man auch der Idee verfallen, das Ganze sei z.B. bei Veganern recht einfach. Aber ist es das? Betrachte ich mir dem gegenüber z.B. die Amischen und ihren Lebensstil, dann erscheint (mir) der vegane Lebensstil plötzlich als vergleichsweise unbedeutend. Doch bei den Amischen geht das Ganze dann auch über die reine Gestaltung hinaus. Die Grenze zwischen Lebensstil und Lebensweise ist hier nicht klar erkennbar.

Was ein Lebensstil ist, hat also mindestens einen so hohen Interpretationsspielraum wie der Gothic-Begriff als solches. Daher ist eine allgemeingültige Aussage meiner Meinung nach gar nicht möglich. Es kommt also wieder auf jeden selbst an. Ich lehne den Begriff eigentlich ab. Ihm haftet immer so etwas ein-eindeutiges an. So eine „entweder Lebensstil A oder Lebensstil B“-Geschichte.

Komme ich über die Gothic-Szene vielleicht weiter? Dort herrscht trotz markanter äußerlicher Gemeinsamkeiten und ähnlichen Interessen eine gewisse menschliche Vielfalt mit entsprechender Bandbreite an Einstellungen. Was davon ist dem Lebensstil zuzuordnen? Ist das dann das, was Gothic als Lebensstil ausmachen würde? Bin ich Soziologe? Ist die Frage überhaupt soziologisch gemeint, oder soll ich nur etwas über mich erzählen? Kann ich ja gerade mal machen.

schwarzer-Schlumpf
Bin ich Soziologe? Oder ein schwarzbunter Schlumpf?

Bezogen auf Vorlieben, Freizeitaktivitäten & Co. ist mein Lebensstil aus meiner Sicht erst einmal individuell. Gothic-Einflüsse gibt es da zwar einige, doch deswegen würde ich Gothic nicht als „meinen (den einen) Lebensstil“ bezeichnen (gilt aber genauso z.B. für den Egoistisches-A-Loch Lebensstil oder den Normalo-Lebensstil). Dafür ist da zu viel mehr. Ich habe da genügende „bunte“ Einflüsse (hat nix mit Cyber zu tun). Computer, Technik, SciFi, Sonne… Am besten bezeichne ich meinen Lebensstil gar nicht konkret – so wie ich grundsätzlich Kategorien verweigere, wenn eine gewisse Mindestsubjektivität im Spiel ist.

Also nochmal: Ist Gothic ein Lebensstil? Ja, die meisten sind es. Aber Gothic ist weder Lebensweise noch Lebenseinstellung.

Und ich? Ist Gothic mein Lebensstil? Grundsätzlich wähle ich meinen Lebensstil nicht bewußt nach irgendeinem Schema aus. Müßte ich eine Bezeichnung finden, würde ich schwarzbunt dazu sagen (Anmerkung: Hat immer noch nix mit Cyber zu tun). Es ist so: Mein Lebensstil enthält Gothic, aber eben nicht ausschließlich. Vielleicht noch nicht einmal überwiegend – das sieht jeder irgendwie anders.

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Und sie ist doch weiß...die Tapete!

Ich bin auf jeden Fall schwarz und schräg und das wirkt sich auch größtenteils auf tägliche Entscheidungen aus. Sei es bei der Musikauswahl, Freizeitgestaltung, Gesprächsstoffen, Dekoration, Kleidung. Doch auch wenn mir einige ohne zu zögern glauben würden, dass ich mein Eigenheim schwarz tapeziere und mir Spinnen und Fledermäuse überall hin dekoriere, so ist dem nicht so. Ich bin eben ich und kein Modell eines Musters. Wenn ich Nebel will, dann will ich Nebel weil ich ihn will und nicht weil er vielleicht irgendwie ins Schema passt. Genauso geht es mir mit der grünen Krawatte auf dem schwarzen Hemd, einem leuchtenden Weizenbierglas oder meinen immer noch blonden Haaren.

Mir gefallen verfallende Gebäude und mittelalterliche Themen. Zugegebenermaßen nehme ich da lieber an Veranstaltungen teil, die eine romantisierte Version des Mittelalters darstellen, als mich wirklich ins Mittelalter zu wünschen. Ich bin ganz froh, dass ich die Geschichten aus sicherer zeitlicher Distanz wahrnehmen kann, aber ich finde sie interessant. Derartige Vorlieben nähern mich der schwarzen Szene ebenso wie das meiste meines Musikgeschmacks. Man könnte das als Teil eines schwarzen, wenn auch nicht unbedingt Gothic-Lebensstils bezeichnen. Mit der historischen Gothic-Music kann ich z.B. nur selten etwas anfangen…

Altmetall
Altmetall

Die Beschäftigung mit gruseligen, mystischen und tiefgründig philosophischen Themen finde ich irgendwie angenehm. Schon gemerkt? Das letzte davon läßt sich nicht direkt in die Gothic-Schublade stecken. Auch mein Spaß z.B. an Miami Vice, 80er-Jahre-Pop oder der Cyber- bunten Blümchen-Lichterkette am Balkon wird eher nicht durch einen Gothic-Lebensstil gestützt sein – das passt einfach nicht recht dazu. Die täglich getragenen Ringe (Teil meines für Büroverhältnisse eher „extremen“ Erscheinungsbildes) oder mein Hang zur Grundfarbe Schwarz sind da schon eher passend.

Von Ansichten und Verhaltensweisen fange ich jetzt lieber nicht an. Diese sind für mich auch grenzüberschreitend in Richtung Lebensweise und -einstellung. Darum ging es ja hier nicht.

Zum Abschluß wiederhole ich einfach nochmal meine ursprüngliche Aussage: Die Frage  ist eigentlich ungültig.

Und weil das Thema so bescheuert komplex und widersprüchlich ist, würde ich in voller Kluft in einem schicken Club (am besten in einem Gewölbekeller) meinem Gegenüber mit ernster Mine erklären: „Gothic? Mein Lebensstil? Das denk‘ ich Nimmermehr.“ Und währenddessen kullert Vincent Price’s irres Lachen durch mein Oberstübchen…

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6 Kommentare zu „Gastbeitrag r@zorbla.de – Der schwarzbunte Mann“

  1. Pingback: Gothic Friday September - Resümee

  2. Sehr interessanter Beitrag, dem ich mich ebenfalls sehr gut anschließen kann. Vom Begriff „Gothic“ halte ich weder szenehistorisch oder eigenschaftsbezogen was; finde ihn abgedroschen und verrottet wie ein alter Sargdeckel (wobei Letzteres schon wieder eine gewisse Faszination ausübt). Und außerdem: Wer läßt sich schon gerne bei seiner eigenen individuellen Vielschichtigkeit einen Stempel von anderen auf die Stirn drücken? Das hat ja nix mit Haarfarbe oder bunten Dekogegenständen zu tun, sondern vielmehr mit Gefühl und der inneren Einstellung. Wenn ich will, kann ich dieses Innere nach außen stülpen, muß aber nicht!

    Auch ich definiere mich persönlich als „Schwarzbunt“ – ein Grenzgänger, der sich von beiden Seiten das herauspickt, was gefällt und sich durch ein gewisses Lebensgefühl leiten lässt, dass mich letztendlich zu meinem individuell zusammengepuzzelten Lebensstil führt. Fakt ist, dass es viele „schwarze“ Schnittmengen zu anderen sogenannten Gothics gibt aber bin ich deswegen einer? Da könnte man gleich die Frage beantworten, was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?

    Shan hat es für mich mit ihrem letzten Satz auf den Punkt gebracht.

  3. Sehr gut geschrieben … und musste ich doch sehr schmunzeln bei Deinem letzten Absatz *herrlich*.
    Gothic, ob nun als Stil, Einstellung, oder wie auch immer, war, ist und bleibt nun mal individuell wie jeder Mensch selbst, egal ob nun aus wissenschaftlicher oder menschlicher Perspektive und wie immer gilt: jeder wie er mag 🙂

  4. Danke.

    Ich wollte eigentlich keinen Widerspruch dabei ausdrücken. Mir ging es eigentlich auch um das, was du schreibst. Und darum, dass es meiner Meinung nach keinen Exklusivitätsanspruch für genau einen Lebensstil pro Person gibt. Oder so. Bis ich das verständlich ausformuliert habe bin ich alt… 😛

    1. Ja, ich finde auch, dass jeder nicht nur einen Lebensstil hat, sondern sich dieser individuell aus schwarz, bunt und tarnfarben zusammensetzen kann – um mal bei Deinen Farben zu bleiben. Nur in welchen Anteilen ist eben die Frage und dann wieder individuell. Zum Glück!
      Das Herauszuarbeiten ist bei meinem Beitrag wohl ein bisschen zu kurz gekommen – dann wäre er noch länger geworden! Also wir ergänzen uns prima 😉 Ich lebe auch nicht nur meine Gothic-Lebensstilanteile aus, sondern habe auch ganz normale Seiten. Und alles was man tut oder lebt, was nicht von innen heraus kommt, ähnelt einer schwarzen Zwangsjacke, auf die ich auch nicht scharf bin. Außerdem ist ein kompletter Nur-Gothic-Lebensstil = Vollblutgruftie = selten + vermutlich schon tot (konsequenterweise mit ü25).

  5. Hi!

    Gut geschriebener Beitrag! 🙂
    Wobei für mich Interessen wie
    Wissenschaft, Astronomie, SciFi,
    Computer & Technik nicht im
    Widerspruch stehen zu meiner
    schwarzen Gesinnung. Wer sagt denn,
    daß sich Gothics generell für so etwas
    nicht interessieren? 😉

    Dunkle Grüße! 🙂
    Melle

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