Die dunklen Seiten von London

Ein Reisebericht von Jan

Im Oktober 2013 flog eine kleine Gruppe Todesrodler nach London. Jan erzählt im folgenden Gastbeitrag von den Erlebnissen in der britischen Hauptstadt – so lebendig und interessant, dass auch London-Kenner noch die ein oder andere dunkle Ecke entdecken können.

“Go where we may, rest where we will,
Eternal London haunts us still.”
(Thomas Moore, irischer Dichter & Schriftsteller, 1779-1852)

Die Idee

Es war schon über zehn Jahre her, dass ich mit Punks und Omas zugleich am Trafalgar Square gesessen habe, Siouxsie in Camden an mir vorbei stiefelte und ich trotz der ganzen Klamotten und CDs, die ich mir dort gekauft hatte, gerade noch am Übergepäck vorbei kam.

Aber als kürzlich Midge Ure und Glenn Gregory (von Heaven 17)  in der Sendung „Into the Night with …“ vom ehemaligen Camdener „Blitz Club” erzählten, wie dort die ersten schwarz gekleideten Gäste von Musikgrößen wie David Bowie entdeckt wurden und von dort aus in nur wenigen Monaten eine dunkle Welle, die Dark Wave, über die Jugend der Welt rauschte, merkte ich: es ist so weit, ich muss mal wieder nach London.

Nun sitze ich mit sechs Freunden im Flieger auf dem Weg ins Königreich, um die düsteren Seiten dieser Metropole zu erkunden. In der Bordbroschüre finde ich zu meinem Entsetzen eine Doppelseite „Rumänien – Bran Castle” – mit kitschigen, kunstblutverschmierten Werbevampiren und reichlich Film- und Postkartenmotiven garniert. Insgeheim hoffe ich, dass die britischen Tourismusbehörden nicht zu viel Disneyland aus ihrer Stadt gemacht haben. Wir sind auf jeden Fall gut vorbereitet. Zuletzt reiste ich noch mit „Incy’s Guide To Gothic London“ in der Hand. Diesen Plan hatte eine Londonerin erstmals 1998 mühevoll zusammengestellt und auf ihrer Homepage veröffentlicht. Die Webseite ist aber längst verschwunden und seitdem hat es nichts Vergleichbares mehr gegeben, also mussten wir uns vorab selbst ein Update zusammenstellen.

(Shan Dark: Stay tuned! Der „Gothic Guide London“ von Jan und mir wird in den nächsten Tagen hier veröffentlicht.)

London-Cover

Der erste Eindruck

Nach der Landung und dem obligatorischen Warten bei der Einreise bringt uns ein Zug in die Innenstadt. Dort fällt mir als erstes auf, dass mir so wenig auffällt: Für eine Modemetropole ist die Kleidung doch recht langweilig. Ältere Leute sehen aus wie bei uns, unter jüngeren Frauen wirkt die Kombination aus Dutt, Longshirt, Leggins und UGG Boots wie eine vorgeschriebene Uniform. Bunte Haare sehe ich nirgends, nicht einmal die für Großbritannien so typischen Hüte oder irgendeine vom Standard-Casual abweichende Kleidung.

Prioritäten
Prioritäten

Doch je näher mehr wir in Richtung Camden kommen, desto interessanter wird es. Vor der Station Kings Cross stehen die Taxen im Stau und hupen. Ein Amnesty-International-Flugblattverteiler ist sichtlich seit Stunden davon genervt und macht die Geräusche nach. Dazu erzählt eine vermutlich obdachlose Frau ihre Geschichte von der Weltverschwörung und ein paar Meter weiter fragt mich prompt eine circa 70-jährige Dame, ob ich ihr den Weg zu einem GoGo-Club erklären könnte. In diesem Stadtteil muss man sich wohl einiges einfallen lassen, wenn man auffallen möchte.

Gruseln in Whitechapel

Londoner-GassenFür den ersten Abend hatte ein Teil unserer Gruppe schon ein Konzert ins Auge gefasst. Wir nehmen stattdessen die U-Bahn nach Whitechapel und schließen uns bei einem der vielen „Walks“ an. Die kann man sich in etwa wie die in Deutschland verbreiteten Nachtwächtertouren vorstellen: Ein Guide führt einen durch einen Stadtteil und erzählt Anekdoten, Gruselgeschichten und mehr aus der Stadtgeschichte. Wir entscheiden uns für die „Jack the Ripper“-Tour. Trotz des Regens haben sich an diesem Donnerstag etwa 40 Leute eingefunden. Shaughen, unser Guide, führt uns zu den Fundorten der Opfer des Rippers und erzählt uns detailliert vom Mordhergang, den Hintergründen und der damaligen Polizeiarbeit. Das Viertel „Whitechapel“, in dem der wohl berühmteste Kriminelle aller Zeiten sein Unwesen trieb, ist heute ausgerechnet das Bankenviertel. Zwischen historischen Backsteingebäuden und Pubs stehen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas. In Nudelbars sitzen Yuppies im Business-Anzug; ein Junggesellenabschied findet zur Cocktail Happy-Hour in einem Pub statt. Ich kann mich nicht entscheiden, was mich mehr gruselt.

Shaughen gibt sich alle Mühe, damit wir uns in die viktorianische Zeit zurückversetzen können. Dies war seinerzeit ein Elendsviertel. Tausende hatte es in die Stadt gezogen, um hier ihr Glück zu suchen, was zu Überbevölkerung, Armut und schrecklichen hygienischen Verhältnissen führte. Die Polizei kam nur in Ausnahmefällen und mit mindestens sechs Mann hierher, so gefährlich war es in Whitechapel.

London zur viktorianischen Zeit (Foto: Bea v.T.)
London zur viktorianischen Zeit (Foto: Bea v.T.)

 

Wir wechseln die Straßenseite und stehen plötzlich vor einer Reihe historischer Wohnhäuser, die seit 150 Jahren unverändert geblieben zu sein scheinen. Wir erfahren, dass dies ein historisches Hugenottenviertel ist. Ich linse vorsichtig durch ein Fenster und sehe, dass Denkmalschutz bei den Briten wohl nicht nur für Fassaden gilt: ein abgewetzter roter Perserteppich, ein staubiger, dunkler Massivholztisch, ein Deckenfresko, Ölgemälde und Tapeten aus viktorianischer Zeit – ein Filmset für Sherlock Holmes? Würde nicht das Licht im ersten Stock brennen, ich hätte niemals gedacht, dass hier jemand wohnt.

Spinnennetz-Haustuer

Shaughen führt uns zum letzten der fünf Fundorte und erläutert drei Theorien darüber, wer Jack in Wirklichkeit gewesen sein könnte. Wir entscheiden uns, das Viertel noch mal alleine zu durchwandern und verlassen die Gruppe. Die alten Gaslaternen sind zwar längst elektrifiziert, dennoch sind die Gassen dunkel und die aus dem Dunst auftauchenden, angetrunkenen Gestalten unheimlich. Lediglich die in London immerwährenden Sirenen der Polizei- und Rettungswagen vermitteln ein gewisses Gefühl der Sicherheit.

Die Metzgernarkose

Am zweiten Tag trifft sich unsere Gruppe in der National Gallery am Trafalgar Square. Gerade findet ein World-Music-Festival statt, daher müssen wir darauf verzichten, uns auf die übergroßen Löwen zu setzen. Anders als in Deutschland sind die Staatlichen Museen in London kostenlos und man kann jederzeit mal für ein Stündchen dort auftanken.

old-operating-theatre-londonAnschließend fahren wir zum ersten Highlight dieser Reise. Das Old Operating Theatre liegt im Dachstuhl der St. Thomas Church. Hier war einst ein Hospital untergebracht. Doch im 19. Jahrhundert hatte man dieses aufgegeben und das Gebäude als Kirche genutzt. Als in den 90er Jahren der Dachstuhl saniert werden sollte, stieß man auf einen seit über 100 Jahren zugemauerten Raum. Darin befand sich eine alte Anatomie bzw. ein Operationssaal mit Holzempore. Dieser wurde vom Nachbarhaus zugänglich gemacht und ein medizinhistorisches Museum eröffnet.

london-operating-theatreIm Eingang kündigt ein übergroßer, aus medizinischen Instrumenten bestehender Totenkopf an, dass hier auch mit makabren Überraschungen zu rechnen ist. Die wohl schmalste und engste Wendeltreppe, die ich je hochgegangen bin, bringt uns zum Kassenhaus und dann in den Dachbereich. Hier ist alles vollgestopft mit Kräutern, Präparaten der unterschiedlichsten Organe, Skeletten und alten medizinischen Geräten. Über eine kleine Treppe komme ich zu der eigentlichen Anatomie und staune: ein wunderschöner Raum mit einer hölzernen Tribüne, wie man sie höchstens aus Filmen kennt. Gerade findet ein Vortrag statt. Ich erfahre alles über die Anfänge der Medizin bis zu der Zeit, als in diesem Gebäude „Behandlungen” durchgeführt wurden.

Innereien in Formalin - Ausstellungsstücke im Old Operating Theatre in London
Innereien in Formalin – Ausstellungsstücke im Old Operating Theatre in London

 

Der Referent scheint selbst Mediziner zu sein und beginnt eine Geschichte zu erzählen, wie sie sich tatsächlich damals ereignet haben könnte.

London-Museum-Operating-TheatreEin einfacher Arbeiter, nennen wir ihn John, kommt angetrunken aus der Kneipe. Auf den Straßen lag seinerzeit zentimeterhoch der Pferde- und sonstiger Mist. John stolpert unglücklich und zieht sich einen offenen Bruch zu. Wo man heute mit ein paar Schrauben und einer Packung Antibiotika das kleine Malheur korrigiert hätte, erwartet John der sichere Tod. Er hat jetzt nur noch eine Chance: er muss zu einem „Surgeon“ gehen und sich seinen Unterschenkel amputieren lassen. Im Gegensatz zu einem heutigen Mediziner hatten Chirurgen damals keine Hochschulausbildung, sondern waren nicht selten gelernte Metzger, welche die Kunst der Amputation durch ein Studium oder eher eine Lehre bei einem anderen Chirurgen erlernt hatten. Es gab zwar bereits ein Medizinstudium, jedoch war das nur wenigen reichen Bürgern zugänglich, die in der Regel einfaches Volk nicht behandelten. Ebenfalls waren weder Hygiene noch Betäubung bekannt.

Die „Narkose“ bestand daher darin, dass John während der Operation von einigen kräftig gebauten Metzgergesellen festgehalten wurde. Der Chirurg hatte vermutlich einen Kittel an, an dem noch die Reste der letzten zehn Operationen klebten und ob er je sein Amputationsbesteck gereinigt hat, sei ebenfalls dahingestellt. Auch auf Pietät hat man damals wenig Wert gelegt. Auf den Rängen des Operationssaals haben Studenten Wetten über den Operationsausgang abgeschlossen oder mit Papierschnipseln um sich geworfen. Ein Fall soll bekannt sein, bei dem die Polizei eine Schlägerei während eines Eingriffs beenden musste. Andere Zeiten, andere Sitten… Uns wird nun vorgemacht, wie man ein Bein amputiert und dabei keine glatte Fläche zurücklässt, sondern eine runden Stumpf, auf dem man eine Prothese anbringen kann. An der Stelle erspare ich euch die wirklich makabren Details. Jedenfalls war Johns Überlebenschance nun von null auf siebzig Prozent geklettert – erstaunlich, wenn man die Umstände bedenkt.

Operationssaal zu viktorianischen Zeiten (Foto: Bea v.T.)
Operationssaal zu viktorianischen Zeiten (Foto: Bea v.T.)

Highgate Cemetery – Schönster der Glorreichen Sieben

Am heutigen Samstag müssen wir früh aufstehen. Die Tube bringt uns zur Station Archway und von dort aus fahren wir mit dem Bus in den ehemaligen Londoner Vorort Highgate. Hier sieht alles ganz anders aus: der Lärm der Stadt ist weit weg, leere Straßen führen an bunten viktorianischen Häusern und einem Pub vorbei. Wir gehen durch den Waterlow Park, einen typisch englischen Park mit kurzem Rasen, kunstvoll gepflanzten Bäumen und spärlichen Beeten. Unser Ziel liegt an der Swains Lane. Hier stehen wir zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des berühmten Highgate-Friedhofs.

Die "Friends of Highgate Cemetery" aus Deutschland :)
Die „Friends of Highgate Cemetery“ aus Deutschland 🙂

 

Bis ins neunzehnte Jahrhundert bestatteten die Londoner ihre Toten auf den städtischen Kirchfriedhöfen. Mit wachsender Bevölkerungszahl wurde der Platz aber immer knapper. Der Architekt Stephen Geary entdeckte darin eine wunderbare Marktlücke und gründete die „London Cemetery Company“, welche sieben exklusive, neue private Friedhöfe auf den Hügeln außerhalb der Stadt baute. Der schönste, bedeutendste und modernste entstand in dem ländlichen Vorort Highgate. Dort stand ein Anwesen mit einem großen Park, von dem man einen wunderbaren Blick auf die Stadt hatte. Der Park wurde angekauft und auf dem Highgate Cemetery wurden prunkvolle Bauten von und für die wohlhabenden und bedeutenden Persönlichkeiten der viktorianischen Ära geschaffen: eine Ägyptische Allee, großzügige Gruften und aufwendige Plastiken so weit das Auge reicht.

Doch im 20. Jahrhundert änderten sich die Bestattungsgewohnheiten, die Friedhofsgesellschaft konnte das Gelände nicht mehr erhalten und die Anlage verfiel zunehmend. 1960 ging sie sogar endgültig in Konkurs, die Zukunft des Highgate Cemetery war ungewiss. Doch 1975 gründeten sich die „Friends of Highgate Cemetery“ als privater Verein, der das Gelände vor der Planierraupe rettete, weitgehend restaurierte und seitdem über dieses Friedhofs-Kleinod wacht.

Der morbide Charme des Highgate Cemetery wurde übrigens in vielen Filmen verewigt, unter anderem drehte man hier einen der Dracula-Filme mit Christopher Lee.

Douglas Adams Grab mit Kugelschreibern (Foto: Andy G.)
Douglas Adams Grab mit Kugelschreibern (Foto: Andy G.)

Wir melden uns in der Kapelle an, denn der ältere westliche Teil ist nur im Rahmen einer Führung zu besichtigen. Trotz unserer frühen Anreise kriegen wir erst eine Stunde später einen Platz und gehen solange auf den neueren, östlichen Teil. Schon nach wenigen Metern können sich meine Mitreisenden vor Begeisterung kaum halten. An einem Hang steht ein frisch geschmücktes Grab, davor ein Behälter voller Kugelschreiber. Auf dem Grabstein steht: Douglas Adams. Der Brauch seiner Fans, einen Kugelschreiber an seinem Grab zu hinterlassen, entstand eine Weile nach seinem Tod. Es ist nicht genau bekannt, was diese Geste zu bedeuten hat, aber es könnte an der Kugelschreibertheorie aus seinem Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“ liegen. Demnach leben alle plötzlich unauffindbar verschwundenen Schreibutensilien heimlich auf einem kugelschreiberoiden Planeten. Eine weitere Deutung könnte auch sein, dass Douglas Adams nie die Kugelschreiber ausgehen sollen, falls er auch nach seinem Tode ein Buch schreiben möchte. Wir schließen uns diesem Brauch natürlich gerne an.

Einige hundert Meter weiter steht eine seltsame Delegation aus Chinesen und Russen an einer riesigen, auf einem polierten Steinquader drapierten Steinbüste. Gerade wurde ein frischer Kranz niedergelegt. Im Gegensatz zu den schönen alten und dezenten Grabstätten um uns herum versprüht dieser Ort den Charme monumentaler Sowjetarchitektur. Hier ist das neue Grab von Karl Marx. Das neue? Ja, denn er wurde 1956 hierher umgebettet, weil seine erste Ruhestätte auf diesem Friedhof – ein schlichtes, bürgerliches Grab – der britischen „Communist Party“ wohl nicht repräsentativ genug war.

Am Ende des Weges finden wir auch noch das Grab von Malcolm McLaren (Sex Pistols).

Die Zeit geht schnell rum und neugierig gehen wir zu unserer Führung auf den älteren, neogotischen Teil Highgate-West. Wir bekommen zunächst eine kleine Einweisung in die Ornamentik. Viele der Plastiken stehen auf einem dreistufigen Sockel. Dieses „Fundament“ symbolisiert „Fides, Spes et Caritas“ (Glaube, Liebe, Hoffnung), die drei Grundtugenden des Christentums. Gebrochene Säulen deuten darauf hin, dass jemand plötzlich und sehr früh gestorben ist. Es gibt Engel der Erlösung sowie viele wohl eher in der anglikanischen Kirche verbreitete Motive, aber auch Grabsymbolik jenseits von Religionen.

Wir nehmen den Pfad bergauf und sehen die ungeheure Dichte an Gräbern auf dem Highgate Cemetery. Uns wird erklärt, dass man teilweise in mehreren Tiefen bestattet hat, um mit der Fläche des Geländes auszukommen. An einer großen, dreieckigen Gruft wird uns mit Bildern gezeigt, wie aufwendig die Restaurierung der Grabmale ist. Viele der Grabstätten haben schon zur Bauzeit Hunderttausende gekostet und dementsprechend teuer ist der Erhalt. Ein Wunder, was hier durch die Eintrittsgelder und die Unterstützung durch den National Trust geleistet wurde.

Highgate Cemetery (Foto: Guido Krebs)
Highgate Cemetery (Foto: Guido Krebs)

 

Rechts neben der Gruft schaudert es mich ein wenig und ich muss daran denken, dass sich hinter der Kunst und dem Frieden dieses schönen Ortes auch schreckliche Schicksale verbergen. Hier wurde Alexander Litwinenko bestattet.

Weiter geht es zum Eingang der Ägyptischen Allee. Diese Straße wurde nicht von Angehörigen gebaut, sondern war Bestandteil der zentralen Anlagen, welche die Highgate Cemetery Company angelegt und anschließend in einzelnen Gruften verkauft hat. Der Weg führt steil bergauf, links und rechts sind eiserne Türen hinter denen die Toten in Bleisärgen auf steinernen Regalen liegen. Zu viktorianischer Zeit fand man die Vorstellung, nach seinem Tod in der Erde bzw. „im Dreck” beigesetzt zu werden, zutiefst unhygienisch und abstoßend. Feuerbestattungen waren nicht nur unüblich, sondern lange Zeit sogar verboten. Für eine solche standesgemäße und reinliche letzte Ruhe haben reiche Londoner daher auch stattliche Summen aufgebracht.

Ägyptische Allee - Highgate Cemetery (Foto: Bea v.T.)
Ägyptische Allee – Highgate Cemetery (Foto: Bea v.T.)

 

Am Ende der Allee gehen wir einige Stufen zum Circle of Lebanon herab, einer kreisförmigen Grabanlage, in deren Mitte eine große alte Zeder steht.

Dahinter erwartet uns eine Neuheit auf dem Highgate Cemetery, denn wir dürfen die Katakomben unter den Terrassen besichtigen. Diese sind noch ein Überbleibsel von Ashurst House, welches beim Bau des Friedhofs abgerissen wurde. Unterhalb dieses Bauwerks schuf man ein Backsteingewölbe mit Nischen, in die Bleisärge geschoben wurden. Einige der Nischen sind geöffnet, auf anderen können wir mit Taschenlampen erkunden, aus welchen Ländern die Namen der Verstorbenen stammen.

Circle of Lebanon (Foto: Bea v.T.)
Circle of Lebanon (Foto: Bea v.T.)

 

Vor den Katakomben steht das Grabmal für Ada, die Tochter von Julius Beer. Nach dem Vorbild des Antiken Mausoleums von Halicarnassus ließ dieser hier ein Grabmal für seine jung verstorbene Tochter errichten.

Anschließend gehen wir den Hang herab und stehen plötzlich vor einem modernen Architektenhaus, dessen große Glasfassade den Blick in ein Wohnzimmer mit schicken Designermöbeln eröffnet. Hier führt wohl ein äußerst wohlhabender Londoner sein Landleben über einem Friedhof, wenn er von der Stadt genervt ist? Und tatsächlich, der Trägerverein „Friends of Highgate Cemetery” hat einige Grundstücke verkauft, um die Erhaltung der Anlage zu finanzieren. Wow, das wäre mein Traum, hier wohnen zu dürfen!

Zum Schluss erfahren wir, dass der Verein sich alle Mühe gibt, den verfallenen Charme des Friedhofs zu erhalten und nicht zu viel zu restaurieren. Der Friedhof gilt in seiner jetzigen Form auch als Symbol für die Vergänglichkeit.

Nach all den friedhöflichen Eindrücken müssen wir uns erst einmal in einem Pub stärken.

Todesrodeln im Londoner Pub
Todesrodeln im Londoner Pub

Camden Market & Devonshire Arms

An einem Bummel über den Camden Market kommt man bei einem London-Besuch nicht vorbei. Wir schlendern über die sechs Märkte, wo in kleinen Nischen, Häusern, über- und unterirdischen Hallen alle möglichen ausgefallenen Dinge verkauft werden. Leider tun das inzwischen auch 500.000 andere Touristen – jede Woche. Das einstige Mekka zum Szeneshoppen, in dem man nicht nur die ausgefallensten und kreativsten Schöpfungen finden, sondern auch alle möglichen bekannten Größen aus der Musik- und Modewelt treffen konnte, scheint sich inzwischen sehr auf ein Durchschnittspublikum von Studenten, Yuppies und Hipstern ausgerichtet zu haben. Zwischen Handyschalen, Geschenkartikeln und billigen T-Shirts finden wir auf diesem riesigen Basar dennoch ein paar Läden mit Szenekleidung, vor allem mit Schuhen. Aber man muss sehr vorsichtig sein, denn nicht überall werden nur Originale verkauft. Mich freut es, im Staples Market den Black Rose-Shop wiederzufinden, der schon seit zwei Jahrzehnten in der sonst eher schnelllebigen Welt dieses Marktes besteht.

Wem das Gedränge zu viel wird, der kann bei einer kleinen Bootstour auf dem Kanal entspannen. Wir bevorzugen es, auf einen Spring ins „Dev“ zu gehen – The Devonshire Arms. An der Decke des auch als „Hobgoblin“ bekannten Pubs sehen wir Band-, Film- und Konzertposter. Hier trifft man in den Abendstunden allerlei Schwarzvolk, wobei die Musik an diesem Abend eher Heavy-Metal-lastig ist.

Slimelight im Electrowerkz

Es ist nicht nur schön, dass die schwarze Welt ein Dorf ist, manchmal ist es auch praktisch, denn nur so haben wir den Weg zu dieser fantastischen Party gefunden.

An unserem letzten Abend in London sind wir zum Slimelight gefahren, einer regelmäßig im Club „Electrowerkz“ stattfindenden schwarzen Veranstaltung. Doch ab der U-Bahn-Haltestelle sind wir zunächst völlig aufgeschmissen, denn wir können nichts aus der Wegbeschreibung in unserer Umgebung wiedererkennen. Ein schwarzes Londoner Pärchen mit spanischem Akzent lädt uns ein, gemeinsam zum Club zu gehen. Er fragt, woher wir kommen und ich antworte „Germany, worauf er wiederum lächelt und ein „Aaaaah, Groooftys! von sich gibt. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und stelle fest, dass wir uns schon seit Jahren von den kleinen Tanzflächen des WGT kennen.

Nachdem wir an der mürrischen Türsteherin vorbei sind, stehen wir jetzt in einem riesigen Club mit leicht verfallenem, industriellen Charme. Auf verschiedenen Ebenen finden sich Floors für jeden noch so ausgefallenen Geschmack. Überall treffe ich bekannte Gesichter, offensichtlich ist die Londoner Szene sehr reisefreudig und selbst auf kleinen Festivals im deutschen Raum immer mal wieder anzutreffen.

Band "Keluar" im Slimelight London (Foto: Guido Krebs)
Band „Keluar“ im Slimelight London (Fotos: Guido Krebs)

London-Slimelight-Keluar-Oct-2013-Guido-Krebs

Auf unserem Floor findet heute ein kleines Festival statt. Bei einem Wechsel aus Live-Acts, einer Shibari-Bondage-Performance und DJ Sets lassen wir unsere viel zu kurze London-Reise ausklingen.

Anschließend müssen wir noch einen Nachtbus nehmen, denn die Tube wird auch am Wochenende früh geschlossen. Aus allen Richtungen sammeln sich Partygänger an der Station, wobei alle möglichen Subkulturen mit dem normalen Pubbesucher aufeinander prallen. Hier sehen wir zum ersten Mal das, was wir als so genanntes „Binge Drinking”, dem britischen Pendant zum Komasaufen, bisher nur aus dem Fernsehen kannten. Es scheint durchaus normal, dass man hier auch auf allen Vieren kaum noch nach Hause kommt. Zwischen den sich auf das Pflaster ergießenden Jugendlichen stehen offenbar die Reste einer Kostümparty: ein junger Brite in einem sich auflösendem Transformers-Kostüm aus Pappe, männliche Jungfrauen mit übergroßen Leuchtschwertern und grün geschminkte, halbnackte Orks. Zum Glück steigen in unseren Bus nur leicht angetrunkene Menschen ein und dann passiert etwas, dass ich nicht für möglich gehalten hätte: die anderen Fahrgäste geben ein verlorenes Portemonnaie und einen Schlüssel beim Fahrer ab. Trotz aller Exzesse: in dieser Neun-Millionen-Stadt hat es an Höflichkeit nie gemangelt. Very british!

———————- Vielen Dank für diesen tollen Gastbeitrag! ————————-

Die hier gezeigten Fotos sind das Eigentum von Jan oder den genannten Personen. Bitte achtet die Urheberrechte!
Artikel-Vorschaubild: © petarpaunchev – Fotolia.com

 

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4 Kommentare zu „Die dunklen Seiten von London“

  1. Das Old Operating Theatre hat immer wieder tolle Veranstaltungen, ein Blick auf die Facebook-Seite lohnt sich. Ich hätte z.B. gerne die Ausstellung ‚victorian after-death photography‘ gesehen.

    Das Dev hat schon noch Leute an der Tür, aber ich habe nicht gesehen, dass sie jemanden abgewiesen hätten.

    Eine Mitgliedschaft braucht man im Slimelight nicht mehr. Die bringt auch eher regelmäßigen Besuchern Vorteile, kostet dafür aber 10 Pfund und man braucht zwei andere Mitglieder als ‚Bürgen‘. Am besten ist es dort wohl, wenn Sonderveranstaltungen sind. Es gibt auch noch andere schwarze Partys, aber die haben wir (noch) nicht testen können, auch weil sie nicht so oft stattfinden.

    Nächsten Oktober gibt es wieder eine Reise unserer Gruppe, dann können die Bildungslücken geschlossen werden 🙂

  2. Also ich war ja nun auch schon mehrfach in London, aber „The Operating Theatre“ ist mir komplett neu – ein toller Tipp. Kommt auf die Agenda bei meinem nächsten Besuch. Bin schon gespannt auf die Geschichten rund um die Metzgernarkose 😉

    Das mit dem Kugelschreibertopf vor Douglas Adams‘ Grab muss es noch gar nicht so lange geben. Ich habe mich heute mit zwei Planetariern getroffen, die vor einigen Jahren in London an seinem Grab waren, aber sich an einen Kuli-Topf nicht erinnern konnten. Und daran würde man sich ja erinnern – vor allem als Fan!

    Devonshire Arms: Wahrscheinlich ist es heute nicht mehr so kultig wie bei meinem Besuch. Damals – 2006 – legten noch DJs live auf, Gothrock und altes Gruftzeugs und es lief ein s/w Vampirfilm (ich meine es war „Dracula“ mit Bela Lugosi, weiß es aber nicht mehr ganz genau). Schade, dass manches nicht bleibt. Aber Camden hat sich eben wirklich sehr sehr verändert, wie Du auch schon schreibst. Gibt es eigentlich noch Einlasskontrolle im Dev? Bei uns haben sie damals nur Leute reingelassen,die ’schwarz‘ aussahen oder zumindest was Schwarzes anhatten.

    Ähnliches im Slimelight. Ich habe es noch erlebt, dass man Slimelight-Member sein musste, um in die Disco zu kommen oder als „Neuer“ eine Empfehlung von einem Club-Member brauchte, der bezeugte, dass man „suitable“ ist. Ich habe einige Jahre später das „Membership form“ mal mitgenommen, da war Member sein nicht mehr Pflicht, um in den Club zu kommen sondern freiwillig. Ich hab es aufgehoben und mal eingescannt für Euch: http://der-schwarze-planet.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/02/slimelight-london-membership-form.jpg

    (Die Notizen sind von mir – aus meinem Fotoalbum damals ;))

    Leider hab ich das Slimelight nicht als so dolle in Erinnerung. Damals war gerade die Hightime der Cybers und die Engländer haben bekanntlich damit angefangen. Ich habe da auf der Tanzfläche schon Knicklichter gesehen bevor das hier in DE losging. Die Musik war dementsprechend. Ich vermute, die war heutzutage, also bei Eurem Besuch jetzt, sogar besser als damals. Sieht jedenfalls so aus.

    Auch ein SlimeHighlight im umgekehrten Sinne waren die gemischten Toiletten, bei denen sich die Kabinen nicht abschließen ließen.
    Mit dem Slimelight ist es eben wirklich so: man muss es wohl mal gesehen/besucht haben, aber empfehlen kann ich es persönlich nicht.

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